Emigration

Der Weg nach Westen

Schon als David Bezmozgis 2005 Natascha veröffentlichte, einen Band mit sieben autobiografischen Erzählungen, war klar, dass wir eines Tages einen großen Roman von ihm erwarten könnten. Nun liegt er vor. Die freie Welt heißt das Buch, in dem der 1973 in Riga geborene Autor, der als Sechsjähriger mit seinen Eltern nach Kanada kam, eigene Erlebnisse verarbeitet und ein Panorama jüdischer Diasporaexistenz malt.

bahnhof Schon die Eröffnungsszene am Wiener Südbahnhof enthält alles, was die nächsten 350 Seiten auszeichnet: Tempo, Wortwitz und Dramatik. Da versucht die achtköpfige Familie Krasnansky aus Riga, der die Flucht durch den Eisernen Vorhang gelungen ist, ihr umfangreiches Gepäck in den Zug nach Italien zu verfrachten – Koffer und Taschen voller Lackkästchen, lettischen Kleinlederwaren, Fotozubehör und Schallplatten mit symphonischer Musik.

Oberhaupt der Sippe ist der 65-jährige Samuel, ein verdienter Veteran der Roten Armee, der sich nur aus Gründen des Familienfriedens dem Emigrationswunsch seiner Frau Emma unterworfen hat, die es unter den Sowjets nicht mehr aushielt. Emmas Lebensmotto lautet: »Eine Familie sollte zusammenbleiben.« So sind auch die Söhne dabei, der 26-jährige, noch kinderlose Alec mit seiner nichtjüdischen Frau Polina, und der etwas ältere Karl, der mit seiner Rosa zwei Jungs, Juri und Shenja, hat.

Den Sommer 1978 verbringt die Sippe zunächst in einem schäbigen Hotel im heißen, wuseligen Rom. Später geht es in das am Meer gelegene Städtchen Ladispoli. Dort haben die Flüchtlingshilfsorganisationen HIAS und JOINT jüdische Gemeindezentren eingerichtet. Wohin die Reise weiter gehen soll, wird im Familienrat heftig diskutiert. Erstes Wunschziel wäre Chicago, doch die dort lebende Cousine Schura verweigert die nötige Bürgschaft. Danach werden Australien und Kanada als künftige Heimat ins Auge genommen.

Israel wäre für Samuel, den glühenden Antizionisten, nur zur größten Not denkbar. Und so harren die Krasnanskys in »einem Nebel aus Zweifel und banger Erwartung«, wie so viele andere in der »freien Welt« Gestrandete. Hauptgesprächsstoff unter ihnen sind Erfahrungen mit den Ausreise-Formalitäten und Erinnerungen an die Heimat. Die erwachsenen Söhne der Krasnanskys erliegen derweil den Versuchungen des Kapitalismus und des mediterranen Südens. Den Lebemann Alec locken Frauen und Pornofilme, der Geschäftemacher Karl entdeckt den Schwarzmarkt.

prall Bezmozgis, den »The New Yorker« 2010 in seine Liste der 20 besten Autoren unter 40 aufnahm, hat einen prallen Drei-Generationen-Roman geschrieben, der ebenso das Porträt einer Familie wie das einer bewegten Epoche ist. Bis zu letzten Seite begleitet man die Krasnanskys mit Anteilnahme und Vergnügen.

Die leichte Art, mit der Bezmozgis das Thema Exil, aber auch die Breschnew-Ära im Baltikum zu einer bewegenden Geschichte mit etwas Tragik und viel Komik bündelt, hat auch die kanadischen Literaturkritiker beeindruckt. Der Autor, der Mordecai Richler, Philip Roth und Leonard Michaels seine Lehrmeister nennt, ist für die renommierten Auszeichnungen Governor General’s Award, den Giller Prize sowie für den Amazon.ca First Novel Award nominiert worden.

Der 39-Jährige, der auch als Filmemacher arbeitet, ruht sich auf diesen Lorbeeren jedoch nicht aus. Er hat schon ein neues Buch in der Mache. In The Betrayers (Die Verräter), so der Arbeitstitel, ist der Held ein russisch-jüdischer Dissident, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion den Mann trifft, der ihn einst denunziert hat.

David Bezmozgis: »Die freie Welt«. Übersetzt von Silvia Morawetz, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, 350 S., 22,90 €

Sachbuch

Auf dem Vulkan

In »Niemals Frieden?« rechnet der Historiker Moshe Zimmermann mit der israelischen Politik ab – und äußert tiefe Sorge um das Land

von Ralf Balke  18.11.2024

Meinung

Maria und Jesus waren keine Palästinenser. Sie waren Juden

Gegen den Netflix-Spielfilm »Mary« läuft eine neue Boykottkampagne auf Hochtouren. Der Grund: Die Hauptdarstellerin ist israelische Jüdin

von Jacques Abramowicz  18.11.2024

Fachtagung

»Kulturelle Intifada«

Seit dem 7. Oktober ist es für jüdische und israelische Künstler sehr schwierig geworden. Damit beschäftigte sich jetzt eine Tagung in Frankfurt - auf der auch Rufe nach einer differenzierten Debatte laut wurden

von Leticia Witte  18.11.2024

Kultur

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 18. November bis zum 21. November

 18.11.2024

Runder Geburtstag

Superheldin seit Kindesbeinen

Scarlett Johansson wird 40

von Barbara Munker  18.11.2024

Netflix

Zufall trifft Realität

Das Politdrama »Diplomatische Beziehungen« geht in die zweite Runde – Regisseurin Debora Cahn ist Spezialistin für mitreißende Serienstoffe

von Patrick Heidmann  17.11.2024

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 17.11.2024

Literatur

Schreiben als Zuflucht

Der israelische Krimi-Bestsellerautor Dror Mishani legt mit »Fenster ohne Aussicht« ein Tagebuch aus dem Krieg vor

von Alexander Kluy  17.11.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Wem »Jude« nicht passt, muss noch lange nicht »Jew« sagen

von Joshua Schultheis  17.11.2024