Herr Havemann, in dem von Marina Weisband und Ihnen veröffentlichten Buch »Fragt uns doch! Eine Jüdin und ein Jude erzählen aus ihrem Leben« geben Sie Antworten auf Fragen rund um das Judentum. Wie kam es zu der Idee für dieses Projekt?
Das Buch hat eine Vorgeschichte. Marina wollte ein Video machen, in dem sie erklärt, dass es auch Juden gibt, die keine Verbindung zur Religion haben. In einem Tweet bot sie die Möglichkeit an, Fragen zum Thema Judentum zu stellen. Sie hatte wohl mit fünf oder sechs gerechnet, es wurden aber über 450. Daraufhin habe ich ihr spontan meine Hilfe bei der Beantwortung angeboten, und das, obwohl wir uns gar nicht persönlich kannten, sondern nur über Twitter Kontakt hatten. Auf das so entstandene Video wiederum wurde der Fischer Verlag aufmerksam und fragte nach, ob wir daraus nicht ein Buch machen könnten.
Wen wollen Sie damit ansprechen?
Die Zielgruppe ist nicht genau abgesteckt. Das Buch richtet sich an alle, die die Fragen gestellt haben, und natürlich auch an solche, die sich nicht getraut hatten, welche zu formulieren. Dabei wollten wir kein besseres Wikipedia zum Judentum sein. Vielmehr geht es um zwei sehr unterschiedliche Juden, ihr Leben und ihre jeweiligen Perspektiven. Das ist natürlich spannend. Denn auch Personen, die bereits viel über das Judentum wissen, haben uns geschrieben, dass sie auf diese Weise völlig neue Einblicke erhalten hätten.
Nach welchen Kriterien wurden die Fragen ausgewählt?
Wir haben versucht, wirklich alle zu beantworten. Wenn eine Frage in einer anderen, weiter gefassten Frage bereits beantwortet wurde, haben wir sie herausgenommen.
War das Ganze eine Art »Work in Progress«-Prozess?
Es lässt sich gut mit einem israelischen Start-up vergleichen. Man weiß am Anfang noch nicht, wie sich die Idee entwickelt und was am Ende dabei herauskommt. Die Analogie passt auch deshalb, weil das Buch in der Online-Welt entstanden ist und dabei neue Kommunikationswege genutzt wurden. Mit einem Buch erreichen wir aber auch diejenigen, die eben nicht bei Twitter zu Hause sind.
Gab es zwischen Ihnen Diskussionen darüber, ob man einige Fragen vielleicht besser weglässt und welche man auf jeden Fall beantworten sollte?
Unser Ansatz war der, dass es keine dummen Fragen gibt. Und auf manche wären wir selbst wohl kaum gekommen.
Sie beide haben das alles via Zoom, Videos oder Nachrichten verhandelt, sind sich also persönlich in dieser Zeit nie begegnet. Hat das die Arbeit an Ihrem Buchprojekt beeinflusst?
Marina und ich sind sehr online-erfahren und es gewohnt, remote zu arbeiten. In der Tat sind wir uns bis heute noch nie persönlich begegnet, haben aber im Zuge unserer Videoaufnahmen viele Stunden miteinander telefoniert und Nachrichten ausgetauscht. Daraus ist eine Freundschaft entstanden. Das einzige Mal, dass die Möglichkeit für ein Treffen bestand, weil ich gerade in Deutschland war, sorgte der Bahn-Streik dafür, dass es nicht passieren sollte.
Sie selbst kommen aus einer deutschen Familie, die zum Teil jüdisch war, sind vor über zehn Jahren zum Judentum konvertiert und zogen nach Israel. Marina Weisband dagegen stammt aus der Ukraine, lebte ihr Judentum eher privat. Spiegelt diese Vielfalt der Hintergründe sich auch in dem Buch wider?
Selbstverständlich. Zum Beispiel, wenn es darum geht, wie Feiertage begangen werden, haben wir andere Prioritäten. Ich lebe als modern-orthodoxer Jude in Israel, Marina als gläubige, nichtreligiöse Jüdin und hat ihren ganz eigenen Zugang zu Religion und Traditionen.
Sowohl Marina Weisband als auch Sie haben prägende Jahre in Deutschland gelebt. Inwieweit sind Ihre Perspektiven sehr »deutsch«? Würden amerikanische oder französische Juden auf manche Fragen anders antworten?
Allein deshalb, weil in Deutschland die Frage, wer Jude ist, aufgrund der Vergangenheit sehr viel emotionaler diskutiert wird, dürften die Fragen und ihre Antworten in Ländern wie etwa den USA oder Frankreich anders ausfallen. Kein anderes Land hat meines Wissens genaue Gesetze erlassen, die bestimmen, wer Jude und wer Halb- oder Vierteljude ist.
Mir ist aufgefallen, dass die Antwort auf die Frage »Habt ihr Vorschläge für Maßnahmen gegen Antisemitismus?« bei Marina Weisband sehr ausführlich ausfällt, bei Ihnen aber nur wenige Zeilen lang ist. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Es liegt wohl an meiner etwas größeren Distanz zu diesem Thema – schließlich lebe ich in Israel. Marina hat als erfahrene Pädagogin schon allein deswegen viel mehr dazu zu sagen als ich. Trotzdem mache ich mir auch Sorgen um meine jüdischen Freundinnen und Freunde in Deutschland, die mit Antisemitismus konfrontiert werden.
Bei welchen Punkten gab es den größten Dissens zwischen Ihnen beiden, und wann waren Sie sich besonders einig?
Den größten Dissens gab es bei der Frage zu den Gründen, wieso man Juden hasst. Während Marina eine ausführliche, historisch begründete Erklärung liefert, bin ich der Ansicht, dass es für Hass keinen wahren Grund gibt und man ihn auch nicht argumentativ erklären kann – allein deshalb, weil dieser ansonsten eine Legitimation erfährt. Dennoch bin ich sehr froh, dass es dieser Dissens ins Buch geschafft hat, denn so wird das Problem sichtbar. Wenn es aber um israelbezogenen Antisemitismus geht, waren wir uns sehr einig. Das ist nicht selbstverständlich, weil es ebenfalls innerhalb der jüdischen Community in Deutschland dazu sehr unterschiedliche Positionen gibt.
Mit dem Publizisten sprach Ralf Balke.
Marina Weisband und Eliyah Havemann: »Frag uns doch! Eine Jüdin und ein Jude erzählen aus ihrem Leben«. S. Fischer, Frankfurt 2021, 192 S., 18 €