Poesie

Der versehrte Orpheus

Natan Zach, geboren 1930 als Harry Seitelbach in Berlin Foto: Flash 90

Na endlich, möchte man sagen, und sich dennoch vor Verwunderung die Augen reiben. Darüber, dass Natan Zach bislang in Deutschland nahezu unbekannt geblieben ist und erst jetzt hier veröffentlicht wird. Dabei gilt Zach, geboren 1930 in Berlin als Harry Seitelbach, in Israel nicht nur der älteren Generation als bedeutendster Gegenwartslyriker. Auch die Jüngeren kennen seine Gedichte in ihren Vertonungen als populäre Songs, deren rhythmische Liedhaftigkeit profitiert von der frühen Abneigung des Autors gegenüber starrer Metrik, überladenen Metaphern und überhaupt jeder Form ostentativer »Poesie«.

Der Sohn eines deutschen Juden und einer italienischen Mutter – die Familie war 1936 nach Haifa emigriert – hatte bereits Mitte der 50er-Jahre die hebräische Literatur revolutioniert. (»Dichtung gleicht einer Tonscherbe. Leicht zerbricht/sie unterm Gewicht von Gedichten«). Der junge Dichter misstraute dem damals vorherrschenden, an Symbolismus und Expressionismus geschulten Stil und distanzierte sich auch thematisch von jeglichem hohen (Staatsaufbau-)Ton.

polemik Zachs Polemik gegen das einst hochgeschätzte Werk des Nationaldichters Nathan Alterman mag inzwischen nur noch Spezialisten bekannt sein – die suggestive Lakonie seiner eigenen Gedichte aber hat nicht nur die Jahrzehnte unbeschadet überstanden, sondern beeindruckt auch in der überaus gelungenen deutschen Übersetzung durch Ehud Alexander Avner.

»Erlischt das Gefühl, so spricht das wahre Gedicht./Bis dahin sprach das Gefühl, das andere Gedicht.« Bei aller Kargheit: Diese sinnliche Gedankenlyrik ist streng und betörend zugleich, und ihr Autor hat ein klares Bewusstsein seiner Aufgabe: »Ein maßvolles Mitgefühl trägt er in sich,/er ist jedoch präzise: nicht leichthin überträgt er Bilder/von seinem Leid auf sein Nichtleid.« Will heißen: Die Kartografie von Seelenlandschaft verträgt weder Überschwang noch Klischee.

idyllen-gestalt Auch Orpheus ist deshalb bei Natan Zach nicht länger eine Idyllen-Gestalt, sondern ein Versehrter: »Er will sich nicht/trösten lassen. Seine Leier hat er gehängt/in der Dämmerstunde an den Baum. Jetzt schreit er./Sich trösten lassen will er nicht. Jemand/hat seine Leier gestohlen. Ein böser Unbekannter/hat sein Fortsein genutzt, seine Leier gestohlen. Orpheus/schreit in dieser Nacht. Hört hin: der Mond schweigt.«

Ob man dies nun als Verweis auf das blutige 20. Jahrhundert liest, auf die Einsamkeitserfahrung eines sich bereits mit 30 Jahren (zumindest in seinen Gedichten) alt und verlassen fühlenden Künstlers, ob man wie Zachs jüngerer Kollege Asher Reich hier den Einfluss von T.S. Eliot oder Ezra Pound konstatiert – es bleibt dieses ambivalente, schmerzhafte Lektüre-Glück, das Gefühl nämlich, hier einen lauteren, tapferen Menschen kennenzulernen: »Größer ist der Mut zu warten/als der Mut das Herz auszuschütten (…) meinst, du seist bedauernswert, weißt sofort, es ist kein Schicksal,/das nur dir vorbehalten ist.«

misstrauen Das Misstrauen gegenüber inflationär gebrauchten Worten und Wendungen wird dabei im doppelten Sinn aufgehoben in solch berückenden Zeilen wie in jenen des Gedichts »Dort sind Wolken«: »Hier stehe ich und der Abend/zeichnet einen Anblick, den Papier nicht fassen kann./Welche Freude heute Nacht und der Mond/ wie der Mond.« Davids Saitenspiel ist stärker als König Sauls Speer, und in Momenten der Melancholie liest sogar Gott, »man glaubt es kaum – das Buch der Psalmen. Auswendig kann er es noch nicht,/und die Dinge darin beruhigen sehr:/So viele Gedichte.«

Doch gerade, weil Zach in politischen Dingen von geradezu wütender Skepsis sein kann – sein Gedicht »Auf unserer Seite keine Verluste« geht mit nationaler Selbstbezogenheit denkbar hart ins Gericht –, gelingen ihm Verse, die bei aller individueller Gestimmtheit ein genuin israelisches Lebensgefühl vermitteln. »Stolz/und geduldig gingen wir den schweren Pflichten nach, /die wir uns selbst auferlegten aus Angst vor den Wüstenstämmen, und dann und wann/ fuhren wir durchs sichere und flache Wasser/in bekannte Richtungen und zu Menschen, von denen wir genau/wussten, was sie sagen würden.«

Welch ein Beweis dichterischer Souveränität, dass Zach das Unsagbare dennoch nicht zum Kult erhebt und noch in der Beschreibung der Missverständnisse von geradezu kristalliner Transparenz bleibt: »Wir/lasen die/Keilinschriften: sie sprachen von uns,/darum verstanden wir sie nicht.« Auf die Leser in Deutschland wartet eine erhellende Entdeckung

Natan Zach: »Verlorener Kontinent«. Gedichte. Aus dem Hebräischen von Ehud Alexander Avner. Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Berlin 2013, 89 S., 19, 95 €

Aufgegabelt

Mazze-Sandwich-Eis

Rezepte und Leckeres

 18.04.2025

Pro & Contra

Ist ein Handyverbot der richtige Weg?

Tel Aviv verbannt Smartphones aus den Grundschulen. Eine gute Entscheidung? Zwei Meinungen zur Debatte

von Sabine Brandes, Sima Purits  18.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  18.04.2025

Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Von meinen Pessach-Oster-Vorsätzen

von Maria Ossowski  18.04.2025

Meinung

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  17.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 17.04.2025

Bericht zur Pressefreiheit

Jüdischer Journalisten-Verband kritisiert Reporter ohne Grenzen

Die Reporter ohne Grenzen hatten einen verengten Meinungskorridor bei der Nahost-Berichterstattung in Deutschland beklagt. Daran gibt es nun scharfe Kritik

 17.04.2025

Interview

»Die ganze Bandbreite«

Programmdirektorin Lea Wohl von Haselberg über das Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg und israelisches Kino nach dem 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  16.04.2025