documenta

Der Verlierer ist die Kunst

Auf dem Podium des jüngsten Symposiums zur documenta in Kassel: Moderator Heinz Bude, die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff und der Pädagoge Meron Mendel (v.l.) Foto: Nicolas Wefers

Kann Kassel noch documenta? Ein weiterer Antisemitismus-Eklat und ein Empathie-Problem beschädigen die Weltkunstschau erneut. Die Last der documenta fifteen ist alles andere als abgeräumt. Und nun wird die 16. Ausgabe, die für 2027 geplant ist, bereits im Vorfeld scharf ausgebremst. Nicht einmal eine Verschiebung scheint aus Sicht der Leitung ausgeschlossen. »Die Frage nach dem Zeitpunkt steht in der aktuellen Situation nicht an erster Stelle«, sagte der Geschäftsführer der documenta, Andreas Hoffmann, am vergangenen Freitag.

Der jüngste Tiefschlag: Die Findungskommission – sie hat die Aufgabe, »wegweisende Persönlichkeiten der zeitgenössischen Kunst einzuladen, sich für die Künstlerische Leitung der documenta 16 zu bewerben«– erodierte, bevor sie demissionierte. Nachdem Bracha Lichtenberg Ettinger und Ranjit Hoskoté am 10. und 12. November hingeworfen hatten, hielt es auch Simon Njami, Gong Yan, Kathrin Rhomberg und María Inés Rodríguez nicht mehr im Amt. Jetzt muss der Findungsprozess »vollständig neu« aufgesetzt werden.

Die documenta hat sich erneut schlimm blamiert. Schließlich hätten sich Ranjit Hoskotés Name und das Wort BDS googeln lassen, so Meron Mendel.

Die documenta hat sich erneut schlimm blamiert. Schließlich hätten sich Hoskotés Name und das Wort BDS googeln lassen, so Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Dass der Inder, der 2019 ein Statement mit Bezug zur Israel-Boykott-Bewegung und antisemitischem Gehalt unterschrieben hatte, diese »extrem relevante« Information verschwieg, konstatierte Mendel auf dem Symposium »Kunst, Politik, Öffentlichkeit: Die documenta fifteen als Zäsur?« am vergangenen Wochenende in Kassel. Er fordert: »Wir müssen korrekt und sauber arbeiten.«

Künftig gar nicht mehr arbeiten zu können, befürchten offenbar die vier am 16. November zurückgetretenen Kommissionsmitglieder. Sie verschärften den Ton: Die »Diskreditierung« Hoskotés lasse sie »sehr zweifeln, ob die Voraussetzung für eine kommende Ausgabe der documenta derzeit in Deutschland gegeben ist«.

Unter dem Eindruck des Hamas-Terrors

Lichtenberg Ettinger beteuert indes, ihr Schritt sei keine Reaktion auf Hoskotés BDS-Nähe, die die »Süddeutsche Zeitung« am 9. November (sic!) publik machte. Es falle ihr vielmehr schwer, unter dem Eindruck des Hamas-Terrors zu funktionieren. Ihrer in zwei Mails erbetenen Unterbrechung des Findungsprozesses war eine Absage erteilt worden – laut documenta »mit Blick auf den sehr weit fortgeschrittenen Findungsprozess« –, obgleich umgekehrt ja gerade der Fortschritt eine Pause erlaubt haben könnte.

»Die Kunstwelt, wie wir sie vor Augen hatten, ist zusammengebrochen«, formuliert die israelische Künstlerin in ihrer Rücktrittsbegründung. Sie stellt klar: »Künstler sind nicht dazu da, schmückendes Beiwerk der Politik zu sein« und bekennt: »Mein Herz weint um jeden Toten auf allen Seiten.«

»Die Kunstwelt, wie wir sie vor Augen hatten, ist zusammengebrochen.«

Bracha lichtenberg ettinger

An der Sitzung der Findungskommission am 12. und 13. Oktober konnte die 75-Jährige aufgrund gestrichener Flüge von und nach Israel nur per Zoom teilnehmen. Während der Kaffeepausen in Kassel flimmerte über ihren Bildschirm in Tel Aviv das Massaker vom 7. Oktober. Erst nach ihrem Rücktritt hatte documenta-Geschäftsführer Hoffmann sein »Mitgefühl« erklärt.

Bracha Lichtenberg Ettingers Bitte, zu entschleunigen, hätte in einer »sensiblen Gesellschaft nicht abgelehnt werden dürfen«, befand Mendel auf dem Symposium. Dass es geschah, ist für ihn Ausdruck »fehlender Empathie«, und er ergänzt auf dem Podium nicht ohne dialektischen Unterton: »Es wurde vorhin gesagt, die documenta ist ein Spiegel der Gesellschaft.«

Eine Gesellschaft, die die Einzelfallbetrachtung scheut

Auch der Umgang mit Hoskoté spiegelt möglicherweise eine Gesellschaft, die die Einzelfallbetrachtung scheut. Der indische Kurator begründet seinen Rückzug aus Kassel in einem sehr langen Schreiben, beklagt, »aufgrund einer einzigen Unterschrift (…) verurteilt, denunziert und stigmatisiert« zu werden und moniert: »Keiner meiner Verleumder*innen hat es für wichtig gehalten, mich nach meinem Standpunkt zu fragen.

Hätte Hoskoté, der ein Großneffe der Jüdin Kitty Shiva Rao aus Wien ist, aber seinen Standpunkt nicht darlegen können und müssen, lange bevor Geschäftsführer Hoffmann die Distanzierung von den antisemitischen Inhalten des unterschriebenen Statements forderte? »Ich teile die BDS-Position nicht«, schreibt Hoskoté.

Unterschrieben habe er im Zusammenhang mit einer Veranstaltung, die »eindeutig« eine Gleichsetzung von Theodor Herzl und (dem indischen Politiker) Vinayak Damodar Savarkar vorgesehen habe und eine Allianz zwischen Zionismus und der hindunationalistischen Ideologie Hindutva »intellektuell salonfähig machen sollte«. Dies fand Hoskoté »höchst ironisch, da Savarkar als Bewunderer Hitlers bekannt war und offen seine Bewunderung für die Nazi-Ideologie und -Methoden zum Ausdruck brachte, die er als Modell für ein Hindu-majoritäres Indien vorschlug«.

Jetzt werde von ihm verlangt, »eine pauschale und unhaltbare Definition von Antisemitismus zu akzeptieren, die das jüdische Volk mit dem israelischen Staat in einen Topf wirft und dementsprechend jede Sympathiebekundung für das palästinensische Volk als Unterstützung für die Hamas ausgibt«. Auch Hoskoté sieht ein Empathie-Defizit.

Wie will die documenta künftig jeden Teilnehmer beurteilen? Schon die Vorstufen der 16. Ausgabe sollten transparent sein wie nie. Installiert wurde gar – das Matroschka-Prinzip lässt grüßen – eine Findungskommission der Findungskommission. Allerdings zeichnete sich da schon mögliches Ungemach ab. Das vor einem Jahr berufene Findungskomitee, welches das (nun aufgelöste) Gremium besetzte, das wiederum bis zum Jahresende oder Anfang 2024 die künstlerische Leitung für 2027 hätte küren sollen, war zumindest befangen, weil: besetzt mit vier ehemaligen documenta-Leitern.

Man lernte viel über die Linken und ihre Sicht auf den Holocaust, vergaß aber über Stunden, dass Kunst Anlass der Debatte war, da sie kaum zur Sprache kam.

Für die Stadt Kassel ist die documenta unverzichtbar. Die Eingangsfrage des Symposiums lautete: »Wem gehört die documenta?« Laut der wissenschaftlichen documenta-Mitarbeiterin Maria Neumann offenbarten Umfragen, dass in der Kasseler Stadtgesellschaft »große Verlustangst« herrscht. Sie vernahm in der »stolzen Gastgeberstadt« gar Aussagen wie »Die Juden nehmen uns die documenta weg«.

Kern von Ressentiment sei Kränkung, meinte Moderator Heinz Bude und fragte, ob eine Kränkbarkeitsresilienz haben muss, wer sich Kunst ins Haus holt. Das Podium stimmte darin überein, dass die Resonanzfähigkeit der documenta infrage steht und neu begründet werden muss. Jedoch sei nicht klar, wie das gehen soll.

Kein Ausstellungsmacher, Kurator oder Künstler war anwesend

Ergreifend schilderte der Soziologe Natan Sznaider sein Erleben des nicht enden wollenden 7. Oktober. Ratlosigkeit angesichts der Polarisierung der Gesellschaft und eindimensionalen Sicht des Kulturbetriebs war Grundtenor des Symposiums, das unerklärlicherweise weder ein Ausstellungsmacher noch ein Kurator oder Künstler bereicherte. Man lernte dank des Experten Klaus Holz viel über die Linken und ihre Sicht auf den Holocaust, vergaß aber über Stunden, dass Kunst Anlass der Debatte war, da sie kaum zur Sprache kam.

Eine Literaturwissenschaftlerin immerhin erinnerte gelegentlich daran. Man müsse sich ein Objekt anschauen, so Yael Kupferberg, um fragen zu können: »Was hat das Ganze mit uns zu tun?« und »Welchen Kunstbegriff haben wir?«. »Die Funktion der Kunst besteht nicht darin, politische Ideen zu ästhetisieren«, dies gab Lichtenberg Ettinger in ihrem Rücktrittsschreiben, sich berufend auf Walter Benjamin, der documenta mit auf ihren steinigen Weg.

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