Eigentlich habe ich erst am Ende gemerkt, dass ich falsch herum durch die Ausstellung gegangen bin. Und so stand ich gleich am Anfang vor den Exponaten, die zeigen, wie sehr der Maler, Liedermacher, Architekt, Tischler und Allround-Künstler Arik Brauer im heutigen Österreich verankert ist.
In einem Video ist er, schlank, schlaksig, mit seinem Markenzeichen, dem Spitzbart, in Frack und Fliege auf dem Wiener Opernball zu sehen, freut sich, Teil der Gesellschaft zu sein, und spuckt ihr sogleich in die Party, indem er die Musik des Abends kritisiert, die nicht nach seinem Geschmack ist.
»Ich war nicht einen einzigen Tag in meinem Leben religiös, im Sinne von gläubig.«Arik Brauer
Daneben hängen die Goldenen Schallplatten, die Brauer für seine Wiener Lieder bekommen hat: »Sie hab’n a Haus baut« und »Sein Kopferl im Sand« kann so ziemlich jeder Österreicher mitsingen. Natürlich ist Arik Brauer auch in seinem Atelier zu sehen, an der Seite seiner Frau und seiner Töchter. Unlängst wurde ihm das große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik verliehen. Österreichischer kann ein Leben nicht sein. Brauer ist in seinem Geburtsland so verankert wie Österreich in ihm.
Wenn man durch seine Biografie zurückwandert, durch dieses romanhafte 90-jährige Leben, das in Wahrheit mindestens drei Leben sind, lassen sich die einzelnen Künste, die Brauer ausmachen, wie die Fäden der Ariadne zur Urzelle seines Daseins zurückverfolgen. Der tief in der Wiener Straßenkultur verwurzelte Junge wurde durch den Nationalsozialismus vollkommen von seinem Selbstverständnis entwurzelt – alles Weitere ist die Genialität, diese Zerrissenheit durch Kunst und Leben zu versöhnen.
VÖLKERBALL Am Anfang steht der unbeschwerte Schuhmachersohn aus dem Wiener Randbezirk Ottakring. Ein Bube mit Wiener Dialekt, der auf der Straße mit dem Lumpenball bolzt, der sich rauft und am Fenster der Werkstatt seines Vaters Katzen malt, eine Sportskanone (besonders in »arischen Sportarten« wie Stangenklettern), der seine Lehrer und Mitschüler durch Zeichnungen vom Völkerball und mit Indianerbildern fasziniert, einer, der mit selbst gebastelter Klampfe durch die Gegend zieht und den Spitznamen »Singerl« trägt, weil er überall Musik macht.
Dann der radikale Riss. Die wohl bewegendsten Exponate der Ausstellung sind Briefe von Ariks Vater an seine Mutter, die das Leben des Jungen vollkommen auf den Kopf stellten. Briefe aus Riga, in denen sich das Oberhaupt der jüdischen Familie, die sich nie als solche begriffen hat, aus der Gefangenschaft nach den Kindern erkundigt, ob sie auch brav arbeiten.
Briefe, in denen die Angst mitschwingt, dass er seine Familie nie wiedersehen könnte. Briefe, in denen auch die Hoffnung noch lebt, dass alles irgendwie gut werden könnte, von Hitler verschont zu werden, dass es irgendeinen Ausweg geben muss. Das Letzte, was Arik Brauer von seinem Vater geblieben ist – wenig später wurde er von den Nazis ermordet.
Die Bibel ist für Arik Brauer in Wahrheit ein Werk des »Fantastischen Realismus«.
TISCHLER In Wien musste Arik den »Judenstern« tragen, seine Mitschüler durften nicht mehr mit ihm sprechen, er wurde regelmäßig verprügelt, schlich sich ohne den Stern in eine Malgruppe, in der er ein offizielles, nichtjüdisches Papier bekam (hier suchte übrigens auch der Künstler Alfred Hrdlicka Unterschlupf, dessen Eltern politisch verfolgt wurden). Arik arbeitete als Tischler für das jüdische Sammellager in der Malzgasse, musste Privatmöbel für Gestapo- und SS-Bonzen anfertigen und versteckte sich die letzten Monate der Nazi-Herrschaft in einer Parzelle.
Schnell war dem Wiener Buben klargeworden, dass er ein »Judenjunge« war. Obwohl die Religion zu Hause nie eine Rolle spielte. Bis heute sagt Brauer: »Ich war nicht einen einzigen Tag in meinem Leben religiös, im Sinne von gläubig.« Erst Hitler habe ihn zum Juden gemacht.
Zwischen dem ersten und dem letzten Raum der Ausstellung liegt das Leben von Arik Brauer: der Weg des entwurzelten Jungen und seiner Sehnsucht nach Schönheit, Liebe und Leben. Nach dem Krieg schloss er sich den Kommunisten an, schrieb sich an der Akademie ein, trat weltweit als Tänzer auf, reiste zu dem Maler Ernst Fuchs nach Paris, gab Shows mit israelischer Folklore und zeichnete. Immer wieder biblische Motive, denn die Bibel ist für Arik Brauer in Wahrheit ein Werk des »Fantastischen Realismus«.
Eine Mischung aus Geschichte und Erfindung, wie sie auch seine Kunst beschreibt: geteilte Ozeane, israelische Wüstenlandschaften, fliegende Menschen, dazu immer wieder sein Vater, er selbst und seine Familie.
FAMILIE Seine Frau Naomi lernte Brauer nach einer Fahrradtour durch Afrika in Israel kennen. Die Tochter einer zutiefst jüdischen Familie, deren Vater bereits Theodor Herzl durch Israel kutschierte – der soll dabei immer nur »Mucken und Hutza«, »Mücken und Hitze«, gestöhnt haben.
Die Familie wurde zur Keimzelle von Brauers Leben und damit Teil seiner Kunst. »Ich kenne niemanden, der sich so wenig mit seiner Frau gestritten hat wie ich«, sagt er und sieht seine Lebensliebe als größtes Erbe für seine Kinder und Enkel an. Naomi gab ihm Wurzeln, auch in Israel, wo die beiden ein Haus bauten.
In der Ausstellung Alle meine Künste wird klar, dass alles, was Brauer tut, stets eine biografische Selbstverständlichkeit ist: die Häuser in Wien und Israel, die er als »Eier für Menschen« gestaltete, als Heimat, die Möbel, die er tischlerte, als Erinnerung an sein Überleben und als Ausstattung seiner »Wohn-Eier«, die Malerei, eine andauernde Auseinandersetzung mit der Realität und seinen eigenen Fantasmen und – die Musik.
Eine Fortsetzung des »Singerles«, der die Musik des Wiener Liedes mit sarkastischem Spott spickte und so zum Erfinder des Austropops wurde. Egal, ob in Opernkostümen, in Bühnenbildern, in Cartoons oder Bildgeschichten – alles, was Brauer tut, ist so ureigen wie sein Leben.
Als Maler, Sänger, Bühnenbildner ist Brauer so jüdisch wie österreichisch.
FPÖ Auch heute positioniert er sich noch immer deutlich im Koordinatensystem Österreichs, das inzwischen von der Neuen Rechten mitregiert wird. Er ist ein bekennender Kämpfer für den jüdischen Staat Israel und damit auch Kritiker muslimischer Israelgegner. Das führt zu Widersprüchen. In einem Interview im Katalog erklärt Brauer: »Es ist gespenstisch, denn der Antijudaismus geht Arm in Arm mit der FPÖ.
Die ist ja vor allem dafür, dass die (muslimischen Ausländer) nicht reinkommen. Und sie besänftigen die linke Seite, indem sie sagen, die wollen wir ja nicht, weil sie ja wieder den Antisemitismus mitbringen.«
Die Ausstellung Alle meine Künste sprengt jeden Rahmen, führt in jede seiner Künste von der Vergangenheit ins Jetzt und ist so unendlich gebrochen wie konsequent. Das Leben des vielleicht ungläubigsten und jüdischsten Juden Österreichs, der auf die Frage, ob er stolz auf sein Judentum sei, gern den Schriftsteller Friedrich Torberg zitiert: »Schauen Sie, wenn ich nicht stolz bin, bin ich trotzdem noch ein Jude. Da bin ich lieber gleich stolz.«
»Arik Brauer. Alle meine Künste«, bis 20. Oktober im Jüdischen Museum Wien, Dorotheergasse 11