»Ich werde Frankreich judaisieren!« – wer im Frankreich der 40er-Jahre diesen Spruch auf den Lippen hatte, musste entweder größenwahnsinnig oder verrückt sein. Ioan-Isidor Goldstein aber rieb sich die Hände angesichts ratloser Mienen und verschreckter französischer Bürger. Denn nichts lag dem charismatischen Denker ferner, als sich in ein System zu fügen, das mit Hitler kollaboriert hatte.
Als Ioan-Isidor Goldstein 1945 in Paris eintraf, war er aus seinem Geburtsland Rumänien geflohen. Geboren am 29. Januar 1925 in Botosani in der südlichen Bukowina als Sohn eines Restaurantbesitzers, hatte er auf eigenen Wunsch vorzeitig das Gymnasium verlassen, um für die zionistische Untergrundzeitschrift »Palestine« zu arbeiten – unter dem antisemitischen Regime von Ion Antonescu eine lebensgefährliche Tätigkeit.
Etwa zur gleichen Zeit musste Goldstein Zwangsarbeit für die Wehrmacht leisten. Ende 1944 gründete er zusammen mit seinem Freund Serge Moscovici, der später in Frankreich als Sozialpsychologe berühmt wurde, die Literaturzeitschrift »Da«. Diese wurde jedoch von der Zensur verboten. Seine revolutionären Ideen und das Gründungsmanifest für eine Gesellschaft, in der die Tumbheit der Massen und der Furor der Regierenden keine Chance mehr haben sollten, nahm Goldstein daraufhin mit, als er ein Jahr später nach Frankreich floh.
NACHKRIEGSKOMA »Lettrismus« taufte der junge Immigrant sein System, in dessen Zentrum »das Zeichen« steht. Isidor Goldstein nannte sich fortan Isidore Isou und scharte schnell Gleichgesinnte um sich, die der Sprache genauso misstrauten wie er selbst. Zu viel Unheil hatte sie angerichtet – Goebbels Propagandamaschinerie hatte die Sprache als Massenvernichtungswaffe missbraucht, Hass hatte Europas Sprachen verseucht. Diese Erfahrung hatte Isou zutiefst geprägt.
Er und seine Mitstreiter brauchten eine verbale Initialzündung, die eine neue, schöpferische Ära einleiten sollte. Den Versatzstücken des alten Regimes beabsichtigten sie, den Garaus zu machen.
In Isous Vision sollte das Zeichen für sich stehen, neue Allianzen eingehen und Kunst, Kino und Literatur überschreiben. Kunsthistorisch gesehen, war das ein Novum und die konsequente Fortsetzung dessen, was die Dadaisten mit ihrer Zerstückelung der Sprache eingeleitet hatten. Isou nutzte seine Chance und knüpfte an die Dekonstruktion an – ging aber weit darüber hinaus, indem er mit seiner Créatique ein »Handbuch des Genies« erschuf.
Isidor Goldstein misstraute der Sprache nach ihrem Missbrauch durch die Nazis.
Absurd ist dieser Gedanke nur auf den ersten Blick. Im Gegensatz zum deutschen Geniekult betrachtete Isou Genialität nicht als etwas Schicksalhaftes, Gottgegebenes, sondern als eine jedem Menschen gegebene Möglichkeit, sofern er nur beflissen und strukturiert genug ist. Wer aber war Isidore Isou, dass er keine Feindseligkeit scheute und Frankreich aus dem Nachkriegskoma weckte?
SUPERLATIV Arno Morenz, einer der profiliertesten Sammler der Lettristen, deutet hinauf zu einem schmalen Fenster in der Pariser Rue Saint-André des Arts. Dort oben habe Isou an einem winzigen Schreibtisch gesessen, an Traktaten gearbeitet, Bilder gemalt, die er in der Badewanne trocknen ließ, und hypergrafische Romane aus Bildern und Zeichen ersonnen. Hyper, super, ultra – alles musste superlativisch sein.
»Isou war Systemsprenger und Sprachkosmonaut«, meint Morenz. Auch Roland Sabatier, einer der letzten lebenden Lettristen, betont Isous ganzheitlichen Anspruch: »Wissen ist die Basis der Schöpfung.« Sabatier unterstreicht die rationale Ausrichtung des Lettrismus: »Gefühle kommen und gehen, sie sind endlich; darauf kann keine Kunst aufbauen.« Rigoros ist Saba-tier, und ganz und gar nicht einverstanden mit dem »Affichisten« Jacques de la Villeglé, der als Plakatabriss-Künstler zu Ruhm gelangte.
»Die Scharmützel damals waren vorgetäuscht, eine Art Komödie! Streit befeuert den Verkauf«, sagt der 93-jährige Villeglé lachend und betont den Performance-Aspekt der Lettristen: »Das wussten wir alle.« Man stelle sie sich vor: Zwischen Isou und Villeglé fliegen die Fetzen, und danach gehen sie in trauter Zweisamkeit Kaffee trinken.
Was für eine Show! Den heutigen »Influencern« und »Dissern« standen sie in nichts nach – mit dem Unterschied, dass die Battles ganz real in Saint-Germain-des-Prés stattfanden.
Frédéric Acquaviva, ein Kurator und Musiker, der kürzlich eine umfassende Isidore-Isou-Biografie vorlegte, hebt trotz des Faibles für aufsehenerregende Events auf die inhaltlichen Unterschiede der damaligen Künstlergruppen ab. »Im Gegensatz zu den Dadaisten verfolgten die Lettristen den Skandal mit System«, sagt Acquaviva. Das sei das Besondere am Lettrismus: Nicht die simple Provokation zähle, sondern die dahinterstehende Struktur.
Auf die Frage, ob sein System im Judentum wurzele, antwortete Isou: »Warum fragen Sie das? Sind Sie Antisemit?«
Fatal für Isou war die begrenzte Lebenszeit – er starb 2007 in Paris. Um ein derart ausgetüfteltes System lebendig werden zu lassen, braucht es mehrere Leben. Isous Epigonen aber zerstritten sich und schlossen zudem alles aus, was nicht im strikten Sinne lettristisch war. Abgrenzung aber führt dazu, dass ein System, das zur ewigen Erneuerung der Schöpferkraft erdacht war, zuerst kristallisiert und dann fossilisiert. Darin besteht die Tragik dieser Bewegung.
Angetreten war Isou, das bestehende Gesellschaftsgefüge ordentlich durcheinanderzurütteln. Schon in den 40er-Jahren hatte er zum »Aufstand der Jugend« aufgerufen und bereits 1948 ein Komitee gegründet, das diese Rebellion vorantreiben sollte. Die 68er-Rebellen traten in Isous Fußstapfen und verpassten dem verkrusteten System einen Tritt. Isous Jugendkult darf man jedoch nicht »à la lettre«, buchstabengetreu, nehmen.
Vielmehr ist Jugend eine Metapher für eine übermenschliche, grenzenlose Kraft. »Ich werde niemals sterben«, sagte Isou noch kurz vor seinem Tod, weshalb er auch profane Details wie Bestattungsriten nicht mit seiner Tochter besprechen wollte. Überleben würde er ohnehin in seinem Werk und dank unendlicher Schaffenskraft. Das mag mystizistisch klingen, ist aber nicht weniger aus der Überzeugung der Schoa geboren als der Anspruch des Philosophen Jacques Derrida, »die Kraft, das Andere der Sprache« müsse »aufgehellt« werden. Auch hier war Isou also Avantgarde, nahm Gedanken späterer Denker vorweg.
PARADOXON Warum aber blieb der Bekanntheitsgrad der Lettristen begrenzt? Der Grund liegt vermutlich darin: Isou war ein leibhaftiges Paradoxon – einerseits propagierte er eine universelle, alle Lebens- und Kulturbereiche durchdringende Revolution, andererseits war sein Zirkel so elitär und hermetisch, dass seine Botschaft kaum über die Grenzen des Hexagons hinausgelangen konnte. Einerseits suchte Isou mediale Aufmerksamkeit, andererseits war sein System zu kryptisch, als dass die breiten Massen es verstehen konnten. Es gab keine »Hashtags«, die den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Intellektuellen und Followern hätten darstellen können.
Die Lettristen standen heutigen »Influencern« in nichts nach.
Hinzu kommt, dass Isou Arroganz nicht als Makel wertete, sondern mit Vorliebe vermeintlich und tatsächlich Begriffsstutzige beleidigte und mit Schmähungen überzog. Diebe, Scharlatane und Halunken – das waren die anderen, das waren gegnerische Künstler, falsche Propheten, Kunsthändler und Galeristen. Heute würde Isou vielleicht vergöttert werden, einen Hofstaat in einem Künstlerlokal um sich scharen und mit dem Silberknauf die Speichellecker und Bücklinge verscheuchen.
JUDENTUM Ob er es wagen würde, wie damals »Ich bin der Messias« zu verkünden? Die Frage ist wohl eher, ob er der Gesellschaft diese Provokation gönnen würde. Vergessen darf man nicht, dass der Lettrismus eine in erster Linie jüdische Bewegung war. Isidore Isou und Maurice Lemaître, die beiden Hauptvertreter der Gruppierung, waren Juden. Ihr gesamtes Werk, ihr Denken, ihr System zeugt vom Einfluss ihrer Herkunft.
So finden sich in Isous Tagebüchern und seiner Bibliothek etliche Notizen und Anmerkungen, die Rückschlüsse auf ein ausführliches Studium der Kabbala, des Talmuds und der Tora erlauben. Zweifellos sind diese Gedanken eingeflossen in sein eigenes System, auch in seine Auffassung von Sprache – gefiltert allerdings durch seinen originären Denkansatz.
Auf die Frage, ob sein System im Judentum wurzele, antwortete Isou aber: »Warum fragen Sie das? Sind Sie Antisemit?« Keinesfalls wollte er sich reduzieren lassen auf ein einziges Element. Er war ein gedanklicher Alchimist, meint daher auch die Archivarin seines Werks im Pariser Centre Pompidou. Karl Marx, James Joyce und die Kabbala – Isou vereinigte alle drei Einflüsse.
Und auch Isous Lettrismus-Mitgründer Maurice Lemaître macht aus seiner Kritik an der französischen Judenfeindlichkeit keinen Hehl – und rührte damit mitunter an den Grenzen der Blasphemie. »Jesus ist nur ein falscher Prophet«, heißt es auf einer seiner Zeichnungen, auf der ein Kreuz am Galgen baumelt.
Beide, Maurice Lemaître, vor allem aber der brillante Rumäne Ioan-Isidor Goldstein, waren eventuell so manchem ein Dorn im Auge und sollten verschwinden in den Katakomben der Kunstgeschichte. Komödie? Tragödie? Isou lacht sich vielleicht noch heute ins Fäustchen über die »Banausen«.