Musik

Der Starpianist und die Butterseite

Verzauberte ein Millionenpublikum: der Pianist Menahem Pressler sel. A. (1923–2023) Foto: picture alliance / AP Photo

Er war jung, er war eine Ausnahmebegabung, und er war in Sicherheit. Max Pressler aus Magdeburg hatte mit seinen Eltern und seinem Bruder Leo nach der Pogromnacht via Italien Zuflucht in Palästina gefunden.

Nichts, so schien es, stand dem 16-Jährigen und einer Karriere auf dem Olymp der Klassikwelt im Wege. Sein einziges Problem: Er konnte nicht essen. Nichts. »Welche Allüren«, schimpfte der Vater, »musizieren, aber nichts essen. Hältst du dich für was Besonderes, nur weil du gut Klavier spielen kannst?«

verbundenheit Max, der sich später aus Verbundenheit mit Israel Menahem nennen sollte, wurde immer dünner und schwächer. Die Hilfe eines Psychologen sei kein Thema gewesen damals, erzählte er mir in einem langen Gespräch über sein Leben.

Erst viel später verstand er, was es heißt, ein Trauma zu durchleben und zu überwinden. Das Trauma, die Heimat, die Sprache, alles Gewohnte der Umgebung in Magdeburg zu verlieren. Die Ahnung vielleicht, dass alle Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen die Schoa nicht überleben würden. Bach und Mozart hätten ihn gerettet. Die Musik. Die Erfolge in den USA, wo er bedeutende Wettbewerbe gewann. Und bald darauf die Liebe.

Eine junge Dame, »eine überzeugte israelische Patriotin«, wollte bei dem berühmten Pianisten Unterricht nehmen. »Sie setzte sich ans Klavier, als würde sie eine Tasse Tee trinken. Mit so einem abgespreizten kleinen Finger. So spielte sie auch. Nein, erklärte ich ihr, das geht nicht. Sie sind ja völlig unbegabt.« Aus dieser Absage entstand eine große Liebe.
Pressler zog es aus den USA immer wieder zurück nach Europa, er gründete das Beaux Arts Trio, wurde weltberühmt.

sehnsucht Eine besondere Sehnsucht fühlte er nach Deutschland. Seine Frau Sara, eine echte Sabra, ließ ihn ab Mitte der 50er-Jahre reisen, unter einer Bedingung: Jede Gage, die er in Deutschland verdiente, musste er für soziale Projekte in Israel spenden. Weil er befreit war vom Militärdienst, sollte er jenes Land, das ihn gerettet hatte (»sie war wirklich durch und durch Patriotin«) bitte finanziell unterstützen.

Sara schenkte im hohen Alter sogar beide Lebensversicherungen des Ehepaares sozialen staatlichen Organisationen: »Solange du lebst, Menahem, wirst du spielen. Damit verdienst du genug.« Pressler hielt sich daran. Alle deutschen Gagen für Israel. Es war eine traurige Ironie der Geschichte, dass Sara einige Tage vor Menahems großem Triumph starb.
In Deutschland war Pressler wie weltweit bislang vor allem für Kammermusikfreunde eine Referenz und unerreichte Größe, aber nun sollte er einem breiten Publikum bekannt werden.

Erst viel später verstand er, was es heißt, ein Trauma zu durchleben und zu überwinden.

Das kam so: Pressler debütierte im Alter von 90 Jahren unter der Leitung von Semyon Bychkov mit den Berliner Philharmonikern. Unter den Zuhörern: Chefdirigent Simon Rattle. Der besuchte Pressler in der Garderobe und gestand ihm, er sei neidisch auf Bychkov. Pressler spiele Mozart unerreicht. »Kein Problem«, antwortete Pressler, »dann fragen Sie mich, ob ich mit Ihnen spielen will. Ich sage Ihnen schon vorher zu.«

Philharmoniker Im Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker 2014, live im Ersten übertragen, verzauberte Pressler dann ein Millionenpublikum mit Mozarts berühmtem A-Dur-Konzert. Sein strahlender Ton, der Reichtum seines Klangs und seine tiefe Empfindsamkeit ließen die Musik erzählen von einer großen Künstlerseele und ihrer Wahrnehmung der Welt.

Pressler hatte sein Leben lang als Kammermusiker auf das Gemeinsame geachtet. Er hatte 50 Jahre das Beaux Arts Trio zusammengehalten. Nun spielte er als Solist, mit über 90 Jahren. Zu alt? »Wenn ich Klavier spiele, fühle ich mich wie 50. Wenn ich unterrichte, wie 40. Nur wenn ich Treppen steige, weiß ich, wie alt ich wirklich bin.«

Seine Frau Sara hatte Menahem immer wieder, in wörtlicher Übersetzung der deutschen Metapher, einen »Happy Mushroom« genannt. Einen Glückspilz. Menahem liebte es, diese witzige englische Übersetzung mit einer Anekdote zu verbinden: Ein reicher jüdischer Kaufmann frühstückt und bestreicht seinen Toast dick mit Butter. Das Brot fällt hinunter, aber nicht auf die gebutterte Seite. Eine Sensation. Gottes Fügung? Ein Zeichen?

problem Der Kaufmann und seine Familie sind außer sich, fragen nach in der Gemeinde. Alle sind ratlos. Welch ein Wunder! Man muss den Rabbiner fragen. Der Rabbiner denkt lange nach. Das sei ein zu kompliziertes Problem, das könne er nicht lösen. Es gibt nur einen Weg: Man frage den Oberrabbiner. Man kontaktiert ihn. Die Familie spricht vor. Ein kurzes Schweigen. Und schließlich kommt die Antwort aus dem Oberrabbinat: Der Kaufmann hat das Brot auf der falschen Seite gebuttert.

Presslers Optimismus, sein lebensbejahender Charakter, seine Lust, gutes Essen und Trinken zu genießen, hätten ihn ungeheuer liebenswert gemacht, so die bekannte Kammermusiker-Agentin Sonia Simmenauer, die ihn oft erlebt hat. Berührend seien seine Versuche gewesen, sich immer wieder zu bestätigen, dass er in seiner Art zu Deutschland gehöre. Das, so Simmenauer, sei tief verankert in ihm gewesen. Menahem Pressler war voller Stolz, als ihn seine Geburtsstadt Magdeburg 2009 zum Ehrenbürger erklärte. Vor dem Haus seiner Eltern liegen Stolpersteine. Niemand in der Familie außer ihm, den Eltern und dem Bruder hat die Schoa überlebt.

Der Geiger Daniel Hope, der zur letzten Besetzung des Beaux Arts Trios gehörte und ein familiärer Freund blieb, schaffte es mit großem Engagement schließlich, Menahem Pressler einen Lebenstraum zu erfüllen: 2014 wurde Pressler in einer Feierstunde des Bundestags die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen. Es sei ihm weder gestattet zu verzeihen noch zu vergessen, aber, so hob er in der Dankesrede hervor, er schätze sich glücklich, jetzt eine Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen, die er damals unter traurigsten Umständen verlor.

Menahem Pressler ist am 6. Mai im Alter von 99 Jahren in London gestorben.

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