Der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg – einst überzeugter Stalinist und selbst jüdischer Herkunft – suchte rückblickend eine Erklärung für die radikale antisemitische Kampagne in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese erreichte ihren Höhepunkt im Rahmen der sogenannten Ärzteverschwörung, und erst der Tod Stalins am 5. März 1953 verhinderte die vom Diktator wohl in Erwägung gezogene Massendeportation jüdischer Menschen aus dem europäischen Teil der UdSSR nach Sibirien und Kasachstan.
Ehrenburg erwähnte eine Unterredung zwischen Stalin und dem damaligen sowjetischen Botschafter in Deutschland, Jakow Suriz, die noch im Jahre 1935 stattgefunden haben soll. Der jüdischstämmige Diplomat Suriz war 1934 nach Deutschland gekommen und blieb dort bis 1937.
unterredung Stets versuchte der Botschafter, die sowjetische Führung für einen entschlossenen Kurs gegen die NS-Regierung in Berlin zu gewinnen. In der erwähnten Unterredung mit Stalin ging Suriz insbesondere auf die vor Kurzem verabschiedeten »Nürnberger Rassengesetze« und weitere antisemitische Maßnahmen ein. Stalin nahm den Antisemitismus in Deutschland zur Kenntnis und stellte eine Zwischenfrage: »Sind die deutschen Juden tatsächlich antinational eingestellt?«
Seinen Judenhass konnte er lange Zeit öffentlich kaschieren.
Der Staatschef wollte wohl wissen, ob Hitlers antijüdische Hetze doch einen »rationalen Kern« habe. Seine Frage spiegelt Stalins Vorstellungen über »die Juden« wider, die ihm grundsätzlich suspekt und potenziell illoyal erschienen. Obschon der NS-Antisemitismus in der UdSSR thematisiert wurde, kam die Aufnahme deutscher Juden im Zuge der Novemberpogrome 1938 für Stalin nicht infrage, denn er befürchtete nicht zuletzt die Unterwanderung durch deutsche Spione und Agenten.
Stalins Gespräch mit Suriz erklärt – zumindest aus der Sicht Ehrenburgs – den Ausbruch des Antisemitismus in der Sowjetunion nach 1945. Da der Diktator die Menschen gleicher Herkunft grundsätzlich als Kollektiv beziehungsweise Schicksalsgemeinschaft wahrgenommen und die USA mit ihrer großen jüdischen Bevölkerung damals als Erzfeind betrachtet habe, habe er die sowjetischen Juden für eine Gefahr gehalten.
Hatte Ilja Ehrenburg recht? Oder war Stalin vielmehr ein überzeugter Antisemit, der seinen Judenhass lange Zeit unter Kontrolle hatte, mit jüdischen Menschen und mit »jüdischen Themen« eher pragmatisch umging sowie in der zweiten Hälfte der 40er-Jahre eine günstige Gelegenheit nutzten wollte, um mit »den Juden« endlich abzurechnen?
Sitzung Am 1. Dezember 1952 fand eine Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU statt. Der anwesende stellvertretende Ministerpräsident Wjatscheslaw Malyschew notierte dabei Stalins antisemitische Tirade: Jeder Jude sei ein Nationalist und zugleich ein Agent des US-Geheimdienstes. Jüdische Nationalisten seien der Meinung, die Vereinigten Staaten hätten die Juden im Zweiten Weltkrieg gerettet. Sie würden sich daher den US-Amerikanern verpflichtet fühlen.
Diese Tirade stützt zwar Ehrenburgs These. Sie verdeutlicht aber zugleich den virulenten Judenhass, den Stalin in den frühen 50er-Jahren nicht mehr zu verbergen trachtete. Dieser Antisemitismus war radikal, aber nicht neu. Er zieht sich vielmehr wie ein roter Faden durch Stalins Biografie.
1878 in der georgischen Kleinstadt Gori in der Familie eines Schusters als Josef Dschugaschwili geboren – den Kampfnamen Stalin (der Stählerne) hat er sich erst 1912 zugelegt –, nahm der spätere sowjetische Partei- und Staatschef in der zweiten Hälfte der 1890er-Jahre sein Studium an einem Priesterseminar in Tiflis auf. Dieses Studium hat er – von marxistischen Ideen angetan – jedoch nicht abgeschlossen und sich stattdessen für das abenteuerliche, durch kriminelle Aktionen, Verbannungen und Verhaftungen gekennzeichnete Leben eines russischen Berufsrevolutionärs entschieden.
nationalitätenfragen In der bolschewistischen Partei profilierte sich Stalin zunächst vor allem als Fachmann für Nationalitätenfragen und beschäftigte sich dabei ab und an mit den Juden. Ihre Assimilierung im künftigen sozialistischen Staat erschien ihm sowohl wünschenswert als auch unausweichlich.
Obschon der im Zarenreich omnipräsente Antisemitismus bei den internationalistisch gesinnten Bolschewiki eher verpönt war und zudem als eines Sozialdemokraten unwürdig galt, fiel Stalin bereits vor der Oktoberrevolution 1917 mehrmals durch judenfeindliche Witze, Anspielungen und herablassende Bemerkungen über Parteifreunde jüdischer Herkunft auf.
Seine judenfeindlichen Ressentiments verstärkten sich nach der bolschewistischen Machtübernahme und vor allem nach dem Tod Lenins 1924, als im Kreml ein erbitterter Machtkampf entbrannte. Aus diesem Machtkampf ging Stalin als Sieger hervor, wobei er sich gegen prominente jüdischstämmige Bolschewiki wie Leo Trotzki, später Lew Kamenew und Grigorij Sinowjew durchsetzen konnte.
Israel wollte er zu einem sowjetischen Vorposten in Nahost machen.
Während Kamenew und vor allem Sinowjew sowie Trotzki, die vor 1917 etliche Jahre im Ausland in Exil verbracht hatten, offen ihre intellektuelle Überlegenheit zeigten und den mit dem westlichen Ausland kaum vertrauten »Mann für das Grobe« aus der georgischen Provinz unterschätzten, verachtete Stalin seine Rivalen und nahm sie in erster Linie als Juden wahr.
Die Tatsache, dass die aus der Ukraine stammenden Sinowjew und Trotzki längst keine jüdische Identität mehr hatten und der gebürtige Moskauer Kamenew in der Familie eines russisch-orthodox getauften Juden und seiner russischen Gattin aufgewachsen war, spielte für Stalin keine Rolle.
herkunft Dies traf auch im Fall von Lasar Kaganowitsch zu, der unter dem Antisemiten Stalin trotz seiner jüdischen Herkunft zu einem Politbüro-Mitglied und stellvertretenden Ministerpräsidenten aufgestiegen war und sogar die antisemitische Kampagne der späten 40er- und frühen 50er-Jahre im Amt überstanden hat.
Auf Stalins enges Verhältnis zu Kaganowitsch lässt sich eine antisemitische Legende zurückführen, die sowohl in der UdSSR als auch im »Dritten Reich« verbreitet war: Um Stalin eine Verbindung zu »den Juden« zu unterstellen, wurde ihm eine Ehe mit Kaganowitschs Nichte Rachil (Rosa) angedichtet, die zudem fälschlicherweise als die Schwester des Politbüro-Mitglieds dargestellt wurde.
Obschon Stalins Antisemitismus bereits in den 1920er-Jahren offensichtlich war, hinderten judenfeindliche Ressentiments das Regime nicht daran, »jüdische Themen« propagandistisch auszuschlachten und zahlreiche Partei- und Staatsfunktionäre jüdischer Herkunft zu dulden. Der Kreml baute auf ihre Bereitschaft, die im neuen System entstandenen Möglichkeiten für den sozialen Aufstieg zu nutzen.
Russifizierung Während das Judentum zusammen mit anderen Religionen in der atheistischen UdSSR verfolgt wurde, förderte man in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre die Entwicklung der jiddischen Kultur nach dem Prinzip »national in der Form, sozialistisch im Inhalt«. Ab den 30er-Jahren wurde die Russifizierung von Juden und anderen Minderheiten vorangetrieben.
Der Antisemitismus wurde offiziell nicht geduldet und die nationalsozialistische Judenverfolgung als »Abstieg in die Barbarei« verurteilt. Das 1927 gegründete Autonome Jüdische Gebiet im Fernen Osten (Birobidschan) stellte eine sowjetische Alternative zum zionistischen Projekt im britischen Mandatsgebiet Palästina dar.
In den späten 30er-Jahren nahmen allerdings antisemitische Tendenzen zu, wobei Stalin auf das im »Dritten Reich« verankerte, aber auch in der Sowjetunion nicht unbekannte Feindbild vom »jüdischen Bolschewismus« reagierte und Menschen jüdischer Herkunft nach und nach aus wichtigen Positionen entfernte. Im Zweiten Weltkrieg leistete die Rote Armee einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über Nazideutschland und rettete damit zahlreiche jüdische Menschen vor dem nationalsozialistischen Völkermord. Nach dem Krieg zeigte aber ausgerechnet der sowjetische Sieger über den Nationalsozialismus sein hässliches antisemitisches Gesicht.
Nach dem Krieg zeigte ausgerechnet der sowjetische Sieger sein antisemitisches Gesicht.
Das stalinistische Regime erlitt eine empfindliche Niederlage an der »jüdischen Front«, denn Stalins Kalkül, der 1948 mit Moskauer Unterstützung gegründete Staat Israel würde sich zu einem sowjetischen Vorposten im Nahen Osten entwickeln, ging nicht auf. Gleichzeitig registrierte der Kreml besorgt, dass sich unter jüdischen Menschen in der UdSSR Sympathien für Israel verbreiteten und stellte zunehmend die Loyalität sowjetischer Juden infrage.
Hinzu kamen der Konflikt mit den aus Stalins Sicht »jüdisch dominierten« Vereinigten Staaten sowie die Tatsache, dass die Tochter des Diktators, Swetlana, 1943 gegen den Willen ihres Vaters eine Affäre mit dem mehr als 20 Jahre älteren jüdisch-stämmigen Filmregisseur Alexej Kapler hatte und ein Jahr später den jüdischen Juristen Grigorij Morosow heiratete.
Ärzteverschwörung Diese Entwicklungen brachten bei dem Verschwörungstheoretiker Stalin das Fass zum Überlaufen und bahnten den Weg zu einer grausamen Verfolgungswelle, die sich in antisemitischen Schauprozessen und in der fabrizierten »Ärzteverschwörung« manifestierten.
Vom Antisemitismus geprägt, gelang es Josef Stalin, seinen Judenhass lange Zeit öffentlich zu kaschieren und jüdische Menschen für seine Ziele nutzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er jedoch seinen virulenten Hass offen ausleben. Sein antisemitisches Projekt hat Stalin jedoch nicht vollendet.
In den späten 30er- und 40er-Jahren war unter deutschen Juden in den USA ein Witz über Hitlers Tod an einem jüdischen Feiertag verbreitet, denn der Todestag dieses Judenmörders würde automatisch zu einem Fest der Juden werden. Im Fall Stalin ist dieser Witz Wirklichkeit geworden: 1953 fiel das Purimfest auf den 1. März. Und ausgerechnet in der Nacht zum 1. März erlitt der Judenhasser Stalin einen Schlaganfall und starb vier Tage später. Die sowjetischen Juden waren gerettet.