Der kleine Simon Malkès und seine Familie waren Zwangsarbeiter im Heereskraftfahrpark (HKP) 562 Ost im litauischen Wilna. Am 1. Juli 1944 sprach der Leiter des Parks, Wehrmachtsmajor Karl Plagge, in einer Versammlung zu ihnen.
In Anwesenheit eines SS-Unterscharführers berichtete Plagge vom Vormarsch der Roten Armee und der drohenden Räumung des Lagers durch die SS. »Ihr wisst alle, wie sorgfältig die SS ist beim Schutz ihrer jüdischen Gefangenen«, fügte er an, und viele der über 1000 Zwangsarbeiter verstanden die Botschaft.
Einigen gelang unmittelbar darauf die Flucht aus dem Arbeitslager, über 500 Menschen wurden bei der Räumung ermordet. Rund 250 Juden überlebten dank Plagges Warnung. Sie flüchteten, wie Simon Malkès und seine Familie, in Verstecke, die sie zuvor heimlich angelegt hatten. »Der Unterschlupf war für zwölf gedacht. Als wir dort ankamen, waren wir 37 Menschen«, erinnert Malkès sich in seinem Buch (Der Gerechte aus der Wehrmacht, Berlin 2014). Es war eng, es gab kein Wasser, nichts zu essen »und keine Luft zum Atmen«.
Tagelang harrten sie voller Angst dort aus, dann drehte ein Mann durch, verletzte Simon Malkès’ Vater mit einem Messer am Bein. Überall war Blut. In ihrer Not brachten die Versteckten den Mann um, damit er sie nicht alle gefährdete.
Wilna Das litauische Wilna war Anfang des 20. Jahrhunderts das Jerusalem des Ostens. 35 Prozent der damaligen Bevölkerung waren jüdisch, es gab rund 100 Synagogen in der Stadt. Hier wüteten Hitlers Schergen besonders. Mehr als 100.000 Menschen pferchten sie ins Ghetto oder in Arbeitslager, ermordeten und erschossen sie in Ponary, einem nahe gelegenen früheren Erholungsort im Wald. »Der kleine Malkès«, wie Plagge den 16-Jährigen nannte, der in der Elektrowerkstatt des Heereskraftfahrparkes arbeitete, überlebte.
Sein Retter hieß Major Plagge. Der stille Mann aus Darmstadt, der zurückhaltend war und nie viel sprach, habe sich für seine Leute eingesetzt. »Im Lager gab es Pausen, Suppe, und nie wurde einer verprügelt«, so Malkès. Plagge habe auch jene als kriegswichtige Arbeiter eingestuft, die das Lager eigentlich gar nicht brauchen konnte. Als die SS Kinder abtransportierte, holte er Nähmaschinen und private Textilfirmen in den Heereskraftfahrpark, um Arbeitsplätze für die Frauen zu schaffen, damit sie bleiben konnten. »Als meine Mutter krank wurde, brachte Plagge sie persönlich ins Spital in der Stadt«, schreibt Malkès.
Diese Geschichte war es auch, die den Ausschlag dafür gab, dass der Darmstädter 2005 doch noch die Auszeichnung »Gerechter unter den Völkern« erhielt. Der Wahl-Pariser Malkès reiste damals eigens nach Israel, um dort von Karl Plagge zu berichten. Zweimal war der Antrag zuvor von der Schoa-Gedenkstätte mangels Beweisen abgelehnt worden.
2000 und 2002 war bereits eine Gruppe um die Amerikaner Pearl und Michael Good an Yad Vashem herangetreten, um sich für den Retter in Wehrmachtsuniform einzusetzen. Der Arzt und Sohn der Wilna-Überlebenden Pearl Good hatte 1999 mit der Recherche begonnen. Er reiste mit seiner Mutter nach Europa und nach Wilna. Pearl Good war eine der »Plagge-Juden« – ebenso wie der Maler Samuel Bak, Josef Reches oder sein Bruder Isaak. Auch Michael Good hat später ein Buch über Plagge geschrieben (Die Suche: Karl Plagge, der Wehrmachtsoffizier, der Juden rettete, Weinheim 2006).
In seiner Heimatstadt Darmstadt war Plagges Handeln weitgehend unbekannt geblieben. Der stille Mann hatte an der dortigen Technischen Hochschule Maschinenbau studiert, und es war die frühere Archivarin der Universität, Marianne Viefhaus, die sich auf seine Spuren begab. Sie und die Darmstädter Geschichtswerkstatt machten Plagges Geschichte Jahrzehnte nach Kriegsende öffentlich.
In der Stadt, die auch NS-Verbrecher wie den Heydrich-Stellvertreter Werner Best hervorgebracht hat, erinnern heute Gedenktafeln und eine Straße an den Mann, der sich nie als Retter gefühlt hat. Im Gegenteil, »er hat sich Vorwürfe gemacht, dass er nicht genug Menschen gerettet hat. Daher hat er sich beim Entnazifizierungsverfahren nach dem Krieg von der Spruchkammer auf eigenen Wunsch nicht als Entlasteter einstufen lassen, sondern als Mitläufer«, sagt Martin Frenzel, Vorsitzender des Fördervereins Liberale Synagoge Darmstadt.
Zwangsarbeiter Plagge starb 1957 an Herzversagen. Da war seine Nichte Marianne Wrobel gerade acht Jahre alt. Sie erinnert sich an »einen großen, stillen Mann mit einem herzlichen Lachen«. Von Wilna und was er dort für seine Zwangsarbeiter tat, wusste niemand in der Familie, darüber hat Karl Plagge nie gesprochen. Dass sie ihn nicht mehr fragen konnte, bedauert sie sehr. Erst als sie Michael Goods Buch 2005 in Händen hielt, erfuhr Marianne Wrobel davon, dass ihr Onkel sich auch im Krieg seine Menschlichkeit bewahrt hatte.
Wrobel reiste nach Wilna. Sie traf Überlebende, besuchte die Massengräber in Ponary. »Das war schwer zu ertragen, auch die Bücher darüber habe ich oft nicht bis zum Ende lesen können«, sagte sie später. Plagges Nichte engagierte sich – ganz im Sinne ihres Onkels: An litauischen Schulen schrieb sie den Karl-Plagge-Preis aus, damit die jüdisch-litauische Vergangenheit aufgearbeitet wird.