Ich bin in einer kleinen Stadt aufgewachsen, nämlich in Baden. Baden verdankt seinen Namen den heißen Quellen, welche schon die Römer aufsuchten. In der Römerzeit war der Kurort eine der größten Städte in der Schweiz. Leider leben nicht so viele Juden in Baden. In meiner Jugend waren in der Synagoge immer die gleichen zehn Männer beim Gottesdienst.
Ich kann noch heute ihre Namen runterrattern, wie die der Startelf der Schweizer Nationalmannschaft beim Eröffnungsspiel der Weltmeisterschaft 1994 in den USA. Über die jüdischen Feiertage kamen immer junge Rabbiner aus Zürich zu uns. Sie lasen aus der Tora vor und übernahmen die Festgebete. Eigentlich gab es nur ein Fest, das wir alleine auf die Beine stellen konnten: Chanukka. Besonders hervorheben muss ich hier die Familie Hoffmann, die über Jahrzehnte Geschenke schnorrte. Der Höhepunkt des Jahres war nämlich immer der Lottoabend.
Gurken Frau Hoffmann kannte kein Pardon. Sie klapperte sämtliche Geschäfte von Baden ab und sammelte für das jüdische Chanukkafest. Das Ergebnis lag dann auf dem Gabentisch: Gutscheine für Sprachkurse, Weingläser, Gurken, Wurst und Kerzen. Einmal spendete unser reicher Gemeindepräsident einen seiner Teppiche. Da lag er dann, riesenlang, vor dem Tisch. Der Gemeindepräsident erwähnte immer wieder, dass der Teppich sehr wertvoll gewesen sei. Umgerechnet würde man heute 5000 Euro zahlen. 5000 Euro!
Die Atmosphäre war während des Abends natürlich ein wenig gespannt. Wer würde wohl den alten 5000-Euro-Teppich gewinnen? Mein Vater raunzte mich ein paar Mal an. Ich soll den Schnabel halten. Frau Hoffmann zählte die Lottozahlen auf – Lotto! Meine Eltern gewannen den ersten Preis, den 5000-Euro-Teppich!
Natürlich waren alle neidisch auf uns. Zu Hause dann stellte uns der Teppich vor eine drängende Frage: Wohin damit? Wir hatten kein Zimmer, das groß genug für den wertvollen Teppich war. So einen gutes Stück darf man natürlich auch nicht zurechtschneiden oder halbieren.
Prachtstück Mein Vater fluchte laut, und meine Mutter kommandierte uns, das teure Teil in den Keller zu tragen. Das war das einzige Zimmer, das groß genug war. 20 Jahre lang lag dann dieses Prachtstück am Boden, bis irgendwann Lebewesen kamen und an ihm herumnagten. Die Enttäuschung war natürlich riesig. Noch viele Jahre jammerten meine Eltern, dass sie besser die Wurst genommen hätten. Oder die Gurken.
Mir war das egal. Ich habe kürzlich einen Teppich auf der Straße gefunden. Er sah ähnlich wie der 5000-Euro-Teppich aus (auch rot). Ich schleifte ihn in meine Wohnung und von dort in den Keller. Ein Chanukkawunder würde so aussehen: Meine Wohnung würde über Nacht groß genug werden, um den Teppich auszulegen. Aber vielleicht ist unsere Familie nicht würdig genug für ein Wunder. Echt schade!