Vielleicht ist an der Behauptung, Juden hätten das Schuldbewusstsein erfunden, etwas dran. Jeder aufrechte Katholik oder Protestant – zumindest in der gottlosen deutschen Hauptstadt – wäre stolz darauf, wenn er es wenigstens an einem Sonntag im Monat in die Kirche schaffte. Ich dagegen fühle mich latent schuldig, weil ich in die Synagoge gehe (zwar nicht regelmäßig, aber doch öfter als drei Tage im Jahr), obwohl ich eher Zweiflerin als Gläubige bin.
Manchmal, wenn ich mit meinem Sohn beim Kiddusch sitze und gemeinsam mit den anderen Betern Schabbatlieder singe, frage ich mich: Ist es wirklich ein Grund, in die Synagoge zu gehen, nur weil ich mich dort wohlfühle? »Cohen geht in die Synagoge, weil er mit Gott reden will. Ich gehe in die Synagoge, weil ich mit Cohen reden will« – so hat ein alter Jude einmal seine Anwesenheit im Gottesdienst begründet. Ich habe vollstes Verständnis für Cohens Freund. Die Frage ist nur, was Gott dazu sagen würde.
Natürlich habe ich in der Synagoge nie das Gefühl, dass ich nicht willkommen bin. Im Gegenteil: Der Rabbi ist nett, ich zahle meine Gemeindesteuer noch vor der ersten Mahnung und beteilige mich am Kiddusch. Außerdem erhöhe ich die Anzahl der Gottesdienstbesucher zumindest einmal im Monat um zwei Juden, und wenn es nach meinem Sohn ginge, wären wir jede Woche dort.
Tränen Doch die Hingabe, die ich in den Augen mancher Mitbeter während des Gottesdienstes sehe, stellt sich bei mir seltener ein. Beim Sündenbekenntnis an Jom Kippur – eine ideale Gelegenheit, um sich schuldig zu fühlen. Und nach dem Tischgebet, wenn der schöne Psalm gesungen wird: »Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.« Aber ist der Spaß am gemeinsamen Singen wirklich gleichzusetzen mit einem Draht nach oben? Oder bin ich einfach nur sentimental, wie es dem abgedroschenen Klischee der jüdischen Mutter entspricht?
Mein Sohn – viereinhalb – kennt zum Glück keine Schuldgefühle. Fast jeden Freitag fragt er mich: »Mami, gehen wir morgen in die Synagoge? Ich will spielen und essen!« Am meisten freut er sich auf die Märchenbücher im Kinderspielzimmer, auf die Lego-Ecke und die gekochten Eier beim Kiddusch. Ich wiederum freue mich, dass mein Sohn eine jüdische Gemeinschaft kennenlernt.
Als ich ein Kind war, gab es in meiner Heimatstadt keine Synagoge. Von einem koscheren Bäcker, der leckere Challe produziert, ganz zu schweigen. Ich hatte keine Ahnung, wie man den Segen über die Schabbatkerzen spricht. Ich wusste nicht, wie Judentum sich anhört – außer auf israelischen Schallplatten – und wie es schmeckt. Warum sollte ich meinem Sohn all diese schönen Dinge jetzt vorenthalten?
Investition Sie sehen, schon habe ich den richtigen Dreh gefunden, um mich weniger schuldig zu fühlen. Mal abgesehen davon ist der Synagogenbesuch eine Top-Investition in die Zukunft: Ich sorge dafür, dass mein Sohn schöne Erinnerungen behält. Wenn er auch als Erwachsener in die Synagoge gehen will, kann ich es mir zuschreiben. Und wenn er keine Lust hat, weiß ich schon, warum: Bestimmt liegt es daran, dass der Kiddusch nicht mehr so gut schmeckt wie damals, als Mama noch mit am Tisch saß.