Makronen, Mandelkuchen, Meringueschalen – ich blättere im vergilbten Rezeptheft meiner Großmutter. Es ist mir vor ein paar Tagen wieder in die Hände gefallen. Es riecht weder nach Karamell noch nach Erinnerungen. Denn ich war nie dabei, als sie Gebäck für Pessach zubereitete. Mit ihr verbinde ich Gemüsesuppe, Arme Ritter und Fleischbällchen.
Ob ihre Makronen legendär waren, weiß ich nicht. Jede Familie beansprucht jeweils das beste Rezept für sich. In meinem Heft steht lediglich: »Fünf Eiweiß (geschlagen), 250 g Zucker, zwei kleine Tafeln Schokolade (reiben), 250 g Mandeln, zwei Löffel Mazzenmehl. Eventuell eine geriebene Zitrone oder ein kleines Glas Kirsch«. Sonst steht da nichts.
Der Rest versteht sich von selbst. Auch Backzeit und Hitzegrad fehlen. Ohnehin ist das Heft sehr puristisch gehalten. Keine ausgeschnittenen Rezepte aus Magazinen oder Zeitungen, keine unnötigen Angaben, von wem das eine oder andere Rezept stammen könnte, keine eigenen Kommentare, was zur Optimierung eines Gerichtes führen könnte.
Das Heft ist in erstaunlich gutem Zustand für seine über 80 Jahre. So alt muss es ungefähr sein.
Dem Deckel sind die Gebrauchsspuren anzusehen, ansonsten ist das Heft in erstaunlich gutem Zustand für seine über 80 Jahre. So alt muss es ungefähr sein. Meine Großmutter hat 1943 in Zürich meinen Großvater geheiratet. Danach zog sie zu ihm nach Solothurn, eine kleine Stadt 100 Kilometer westlich von Zürich, mit einer kleinen jüdischen Gemeinde. Wo jeder jeden kannte. Fast wie im Schtetl.
Aber es war kein Schtetl. Es war eine Kleinstadt, in der die Juden in der Vorstadt lebten. So heißt der Stadtteil auf der anderen Seite des Flusses. Jeder feierte sein Pessach für sich, klein, abgeschirmt. Mitten im Krieg, wo kein Krieg war, oder zumindest nicht unmittelbar vor der Haustür. Wie muss es gewesen sein, wenn man wusste, dass an der Grenze gekämpft wurde? Wenn man sich Briefe mit Freunden in Amerika schrieb, die Deutschland rechtzeitig verlassen konnten? Oder wenn man ins Kino ging, um sich die »Wochenschau« anzusehen? Davon erzählen weder der Mandelkuchen noch die Makronen etwas.
Ich sehe lediglich die sehr schöne Handschrift, verbunden, aber nicht verschnörkelt, einer damals jungen Frau von Mitte 20. Sie hatte die Rezepte für Pessach in einem linierten Heft zusammengetragen und mit blauem Kugelschreiber aufgeschrieben. Vermutlich von ihrer Schwiegermutter abgeschaut, mit der sie unter einem Dach wohnte. Denn meine Großmutter hatte ihre eigene Mutter zu früh verloren, als dass sie die familieneigenen Pessach-Rezepte hätte erfahren können.
Ich gehe in die Küche, sehe nach, ob ich genügend Mandeln habe, und backe wie jedes Jahr die Makronen meiner Großmutter.
Die Titel sind in Großbuchstaben geschrieben, mehrmals nachgezeichnet, als würden sie uns sagen: Es gibt nur dieses eine Rezept, wie es auch nur dieses Leben gibt. Daher bedarf es keiner weiteren Erklärung, Varianten unnötig.
Ich gehe in die Küche, sehe nach, ob ich genügend Mandeln habe, und backe wie jedes Jahr die Makronen meiner Großmutter – manchmal bereits vor, manchmal auch erst während Pessach. Dabei frage ich mich nicht, ob sie ähnlich schmecken wie ihre. Auch dieser Gedanke ist vermutlich überflüssig wie jede fehlende Angabe im Rezeptheft. Was ist also Erinnerung? Für einen Moment vielleicht unwichtig. Die Makronen schmecken gut.