Es ist Freitagmittag. Ich komme gerade vom Joggen zurück, in meinen Kopfhörern dudelt meine Lieblings-Playlist, beschwingt betrete ich das Treppenhaus. Da wankt mir eine schwarz gekleidete Gestalt entgegen … der nette Rabbi G. aus dem dritten Stock. Er sieht total fertig aus, kommt auf mich zu, fuchtelt mit den Händen und will mir irgendetwas sagen, aber ich verstehe nur: »Schabbat! Kaputt!« Wie bitte? Ich fummele meine Kopfhörer aus den Ohren.
»DER ERUV VON SCHABBAT IST KAPUTT!«, erklärt der Rabbi in Großbuchstaben. Ach so! Aber doch kein Grund, sich so aufzuregen, oder? Der Eruv ist die Grenze um das jüdische Viertel, die den Leuten erlauben soll, am Schabbat etwas zu tragen, was ja ansonsten streng verboten ist.
Da fällt mir ein, dass jeden Schabbat die ganze Rabbiner-Großfamilie zu Besuch kommt und sich dann die Kinderwagen im Treppenhaus stapeln. Aber ohne Eruv ist das Kinderwagenschieben verboten, alle müssen also zu Hause bleiben, und der Rabbi muss seinen Schabbat allein verbringen. Armer Kerl. Aber er ist nicht der Einzige. Inzwischen verbreitet sich die Botschaft des Eruv-Problems in Windeseile, die Straßen sind auf einmal voll von schwer bepackten Menschen, die Tüten und Pakete von A nach B schleppen.
Die einen hatten die Familie eingeladen und bergeweise Essen gekocht, andere finden sich auf einmal ohne Einladung zum Lunch wieder.
Die einen hatten die Familie eingeladen und bergeweise Essen gekocht, das muss jetzt schnellstens umverteilt werden, Schabbat beginnt in wenigen Stunden. Andere finden sich auf einmal ohne Einladung zum Lunch wieder und müssen schleunigst sehen, wo sie etwas Essbares auftreiben. Beim Caterer »Schalom« um die Ecke hat sich bereits eine riesige Schlange gebildet.
Mein Telefon vibriert von den vielen WhatsApp-Nachrichten. Erst meldet sich meine Schabbat-Walking-Gruppe: »Der Eruv ist kaputt! Da werden wir wohl morgen alle mit triefenden Schnupfennasen spazieren gehen!«, schreibt eine. Wie jetzt? Ach so, ohne Eruv kann morgen niemand Taschentücher mitbringen. Als Nächstes eine WhatsApp von meiner Schabbat-Lerngruppe bei der Rebbetzin. Es hagelt Absagen: »Wir haben nur einen Schabbat-Gürtel, den braucht mein Mann, also muss ich zu Hause bleiben!«, klagt die eine. Ein Schabbat-Gürtel ist eine clevere Erfindung, an dem man seine Hausschlüssel befestigt, um sie nicht tragen zu müssen.
»Du kannst dir selbst einen Schabbat-Gürtel basteln!«, empfiehlt die andere. Man müsse nur zwei paar Schnürsenkel von beiden Seiten in den Schlüssel einfädeln, nicht einfach an eine Schnur dranhängen, denn das würde als »Tragen« gelten! Siedend heiß fällt mir ein, dass wir ebenfalls keinen Schabbat-Gürtel besitzen. Und um in meine Wohnung zu kommen, braucht man drei Schlüssel! Wo soll ich denn jetzt auf einmal so viele Schnürsenkel auftreiben?
Inzwischen ist es kurz vor Sonnenuntergang, mein Mann schiebt ab in die Synagoge, wo der Gabbe verkündete, dass der Eruv wieder repariert sei. Ich kollabiere auf meinem Relax-Ohrensessel. Die Kinderwagenkarawane mit den Enkeln von Rabbi G. traf dann auch wie gewohnt am späten Schabbatmorgen bei uns ein … und der Tag war gerettet.