Während in meiner Nachbarschaft die meisten um mich herum ihre Wohnung weihnachtlich dekorieren und schon bald die ersten Weihnachtsbäume hell aus den Wohnzimmern leuchten, überlege ich mir, ob ich mir einen kleinen Kaktus anschaffen sollte. Mein Anti-Weihnachtsbaum? Mitnichten. Ich finde die weihnachtliche Stimmung mit all ihrem Bling-Bling großartig und bin der festen Ansicht, dass wir uns als jüdische Minderheit, die sich in einer hauptsächlich christlichen Mehrheitskultur bewegt und auch dazugehört, von diesem weihnachtlichen Lichtzauber berieseln lassen sollen. Aber das ist Stoff für eine andere Glosse.
Zurück zum Kaktus. Ständig läuft mir derzeit der Ohrwurm »Mein kleiner grüner Kaktus« nach, den meine Tochter im Kinderchor gelernt hat. Und während ich den Song, dem die »Comedian Harmonists« vor etwas weniger als einem Jahrhundert zu Ruhm verholfen haben, so vor mich hinträllere, fällt mir immer wieder die Zeile ein »Und wenn ein Bösewicht / Was Ungezogenes spricht / Dann holʼ ich meinen Kaktus / Und der sticht, sticht, sticht«.
Meine Tochter macht beim Singen in diesem Moment dann jeweils mit ihrem kleinen Zeigefinger eine Geste, als würde sie ihr Gegenüber stechen wollen. Nur etwas kindliche Theatralik, gewiss. Doch dieses wunderbare Lied von 1934, das heute zu den prominentesten Liedern der Comedian Harmonists zählt (ab 1938 durfte die Platte in Deutschland nicht mehr gekauft werden), ist alles andere als ein inhaltsleerer Schlager.
Dieses wunderbare Lied von 1934 ist alles andere als ein inhaltsleerer Schlager.
Es ist vielmehr ein Plädoyer für die Neue Frau in einer für die Zeit unglaublich modernen Phase und definiert Weiblichkeit als etwas Selbstbestimmtes im Gegensatz zu »Rosen, Tulpen und Narzissen«. Die moderne Frau von damals wohnt nun allein und kümmert sich wenig um bestehende Konventionen (»Das will ich alles gar nicht wissen«).
Sie kann sich zur Wehr setzen – da kommt der stechende Kaktus ins Spiel – und will die Schlussfolgerung, dass je nach Blumensorte sich der Charakter einer Frau ablesen lässt, nicht zulassen. Nun, bei einem Kaktus wäre dies kaum schmeichelhaft (»Was sollen die Leut’ sonst von mir sagen?«). Und es kommt noch besser: Der Kaktus versinnbildlicht im weitesten Sinne auch das Entziehen von bestehenden Schönheitsidealen, Kakteen gelten im Vergleich zu anderen Blumen als nicht besonders schön.
Also doch eher Weihnachtsbaum statt Kaktus? Nein, denn es ist alles eine Frage der Konvention. Und wenn der kleine piksende Kaktus vor diesem Kontext ein Symbol für Eigenständigkeit, Souveränität und Eigenverantwortung ist, dann bin ich froh, wenn meine Tochter den Song mit voller Überzeugung, wie ihn eine Siebenjährige nur singen kann, interpretiert.
Selbst wenn sie die Doppeldeutigkeit darin noch nicht wirklich versteht, gewinnt sie durch das Vorsingen an Selbstbewusstsein – der kleine Bruder der Selbstbestimmung. Später als junge Frau wird sie hoffentlich wissen, wie sie mit den Herausforderungen unserer Gesellschaft umzugehen hat. Die Frau vor 100 Jahren hat es vorgesungen: »Mein kleiner grüner Kaktus …«