Es ist 19.30 Uhr. Wie jeden Tag um diese Zeit sieht man mich in meiner Wohnung verzweifelt von Tür zu Tür tigern, um erst meine Kinder und dann meinen Mann um ein paar Schokoriegel oder Kekse anzubetteln. Aber meine Kids und mein Mann bleiben – wie jeden Tag – knallhart, sie rücken nichts raus, und ich bin doch so hungrig. »Du bist zuckerabhängig!«, analysiert mich meine beste Freundin. »Deine Blutzucker-Kurve steigt und fällt nonstop, und bei jedem Abfall der Kurve stopfst du wahllos Süßes in dich hinein.«
Meine Freundin schickt mich zu ihrem Diät-Guru »Gina, the Glucose Goddess«, um meinen Blutzucker-Pegel zu stabilisieren. Gina ist klein und drall, mit verstörend grell geblümten Klamotten und einem strengen Dutt. Sie sieht aus wie eine sadistische Kindergärtnerin aus einem Horrorfilm. Gina mustert mich mit ihren stechenden kleinen Augen, dann fragt sie mich nach meinen Essgewohnheiten, stuft mich sogleich als schwierigen Fall ein und empfiehlt ihr Rundum-Paket inklusive Blutzucker-Einpegelung, WhatsApp-Kontakt und Nährstoff-Verortung, was auch immer das alles heißen soll.
Sie lässt mich einige Vollmachten unterschreiben, grapscht sich meinen linken Arm und verpasst mir einen selbstklebenden Glukosespiegel-Tracker. Dann schnappt Gina sich mein Handy, tippt blitzschnell darauf herum, richtet ihre Blutzucker-Überwachungs-App ein, drückt mir ein Goodie-Bag mit gesunden Snacks in die Hand und schiebt mich unsanft aus der Tür.
Zu Hause angekommen, durchwühle ich erst einmal den Küchenschrank und stopfe mir ein paar Butterkekse in den Mund.
Zu Hause angekommen, durchwühle ich erst einmal den Küchenschrank und stopfe mir ein paar Butterkekse in den Mund. Auf einmal schrillt ein jaulender Alarmton, meine Ohren fangen an zu klingeln vor lauter Schreck. Das Jaulen kommt direkt aus meinem Handy. Gina muss etwas an meinen Einstellungen verändert haben. Mit zitternden Fingern hebe ich ab. Ginas Stimme keift aus dem Lautsprecher: »Hören Sie auf, sich vollzustopfen, Ihr Blutzuckerspiegel steigt gerade rapide! Essen Sie lieber meine gesunden Snacks!«
Mit schwitzenden Händen drücke ich den Anruf weg und versuche, mein panikartiges Herzklopfen unter Kontrolle zu bekommen. Anscheinend werden meine Glukosedaten direkt per App zu Gina gebeamt. Eine unangenehme Vorstellung. Verzweifelt wühle ich in dem Goodie-Körbchen. Darin liegen einige Tüten mit Flohsamenschalen, die irgendwie nach Sägespänen schmecken, außerdem ein Päckchen mit kleinen braun-grauen Pellets, die wie Futter aus dem Streichelzoo riechen, und erdig schmeckende Erdnuss-Schalen-Flips. Na, das kann ja heiter werden.
Nach einigen schier endlos scheinenden Tagen bin ich ein anderer Mensch. Allein der Gedanke an Glukose ruft bei mir nervöse Zuckungen hervor. Ich bin sichtbar abgemagert, und die knusprigen Snacks von Gina bestelle ich jetzt im Abo direkt nach Hause. Nicht ganz billig, die kleinen Dinger, und auch die Treffen mit Gina gehen auf Dauer richtig ins Geld. Als kleines Zubrot vertreibe ich deshalb ab jetzt Ginas Wundersnacks im Internet. »Glukose-Götterspeise« heißt mein Online-Shop. Schauen Sie doch mal rein! Als Leser bekommen Sie die blutzuckerfreundlichen, köstlichen Schneckenschleim-Gums und Quallen-Crispies zum Einkaufspreis. Wie Sie mich erreichen können, wissen Sie ja!