Gleich vorweg, ich bin ganz und gar kein religiöser Mensch. Und doch frage ich mich immer wieder, was letztlich dazu führt, dass ich mich so stark als jüdische Person identifiziere. Natürlich die jüdische Erziehung, natürlich die Geschichte meiner Vorfahren, natürlich die jüdische Kultur, mit der ich aufgewachsen bin. Aber reicht das? Gibt es da nicht noch etwas? Ein kleines Korn vielleicht, das ganz tief in meinem Inneren wurzelt und diese Jüdischkeit in mir ausschüttet – und zwar jedes Mal, wenn ich es nicht erwarte, sodass sie mich zu Tränen rührt.
Es gibt diesen Moment. Er findet meistens statt, wenn ich eine besondere Form von israelischer Musik höre. Genau dann wird nicht nur ein einzelnes Korn gestreut, sondern eine ganze Tüte davon. Erst jucken die Augen, nein, es brennt schon fast, und der Wasserpegel in den Lidern schwillt unweigerlich an. Woran liegt das? Ich weiß es nicht. Es spielt keine Rolle, ob es die Klänge der »Hatikva«, von »Adon Olam« oder »Mi scheberach le chalet zahal« sind, die anklingen. Es hat auch nichts mit der Moll-Tonart zu tun. (»Adon Olam« ist in Dur komponiert.)
Warum hebt bei mir der Tränenpegel immer genau dann an, wenn ich Lieder in hebräischer Sprache höre? Es geschieht natürlich nicht bei allen. Es ist vielmehr eine ganz bestimmte Sorte von Shirim, eine seltsame Beschaffenheit von Melodien in Kombination mit der hebräischen Sprache, die diese Empfindung ergeben, damit Signale an mein Gehirn ausgesendet werden, die wiederum meine Stresshormone aktivieren – mit der Folge, dass ich weine.
Die jüdische Identität ist keine Identität der Narben und des Leidens. Es ist eine Identität des Weiterlebens.
Mein jüngster Dammbruch erfolgte beim Kindergartenabschlussfest meiner Tochter. Die Kinder bereiteten eine liebevoll gestaltete Aufführung vor. Gegen Ende des Stücks sangen sie »Am Israel Chai« von Eyal Golan. Noch bevor der Refrain über die Lippen dieser Sechsjährigen glitt, fing dieses mir allzu bekannte Zucken in den Augen wieder an. Und ehe ich mich versah, flossen die Tränen. Das war vielleicht nur der mütterliche Stolz, die ganze Spannung vor den Sommerferien, die sich abbaut, die dazu beigetragen hatten?
Nein, mitnichten. Es war wieder genau dieses jüdische Korn in der Textur eines Liedes wie »Am Israel Chai«, welches das Weinen ausgelöst hatte. Dazu der Kontext dieses Songs, der elf Tage nach dem 7. Oktober herauskam. Die Kinder sind sich der Tragweite eines solchen Liedes kaum bewusst. Aber für mich war es erneut diese – mit Verlaub – »toxische Mischung«, die Melodie und Sprache ausmachten.
Ein guter Bekannter fragte mich nach dem Fest, ob ich denn weinen musste. Ja – und zwar aus dem Grund, weil mich meine jüdische Identität in exakt diesem Augenblick schon fast schmerzend wissen ließ, wo ich hingehöre. 2000 Jahre Geschichte und Herkunft werden in dem Moment symbiotisch gebündelt und durch Musik transportiert. Was sonst lässt jüdische Menschen auf der ganzen Welt, und verstehen sie auch kein Wort Hebräisch, beim Klang solcher Musik innerlich zutiefst berührt zucken, gar weinen? Die jüdische Identität ist keine Identität der Narben und des Leidens. Es ist eine Identität des Weiterlebens. Am Israel Chai.