Glosse

Der Rest der Welt

Foto: Getty Images

Schule habe ich immer schon gehasst. Allein schon der Geruch dieses fiesen, braun marmorierten Linoleumbodens, der im Sommer immer klebrig weich wurde, und die hallenden Schulkorridore mit ihren trostlos grauen Steinfliesen – meine Schule, ein hässlicher Betonklotz. Ganz anders die Schule meiner Kinder in Antwerpen, die altehrwürdige Tachkemoni-Schule. Hier ist alles vom Feinsten, dafür haben Generationen großzügiger Diamantenhändler gesorgt. Holzvertäfelte Wände, eine Schulsynagoge mit Glasmosaik, alte Bäume vor den Fenstern.

Allein schon den Namen Tachkemoni finde ich wahnsinnig stylish! Er hat Tradition: Amos Oz besuchte die Tachkemoni-Schule in Jerusalem, Menachem Begin die Tachkemoni-Schule in Brest-Litowsk in Weißrussland. Tachkemoni ist anscheinend ein beliebter Name für jüdische Schulen, denn es bedeutet so viel wie »Mach mich weise« – und schon König David hatte jemanden in seiner Gefolgschaft, der ein Tachkemoni war, wie wir im Buch Samuel nachlesen können.

Wenn man die Antwerpener Tachkemoni-Schule betritt, blicken von rechts und links die Tachkemoni-Absolventen der vergangenen 100 Jahre von ihren vergilbten Klassenfotos herab, in ihren schwarzen Talaren und Doktorhüten. »Humaniora« steht über den Fotos geschrieben, so heißt die Oberstufe hier noch heute, und das letzte Schuljahr wird, sehr stylish, »Rhetorica« genannt. Eine der stolzen »Rhetorica«-Absolventen des Jahres 2024 ist meine Älteste, Ella. Ihren schwarzen Doktorhut und die Robe für die Abschlussfeier haben wir schon besorgt, seit Wochen fiebert sie der sogenannten Proklamation entgegen – der oder die Jahrgangsbeste bekommt dann den silbernen Tachkemoni-Pokal überreicht, auf dem sämtliche Namen der Jahrgangsbesten seit 1960 eingraviert sind.

Schlaflose Nächte, Nervenkrisen, abgekaute Fingernägel und viele Tränen waren in letzter Zeit an der Tagesordnung.

Ella hat jahrelang hart gearbeitet und war immer Klassenbeste, aber die letzten Schulmonate mit ihrer endlosen Büffelei haben sie total überfordert, schlaflose Nächte, Nervenkrisen, abgekaute Fingernägel und viele Tränen waren in letzter Zeit an der Tagesordnung, und die Schulabschlussprüfungen, meint sie, sind nicht besonders gut für sie gelaufen.

Trotzdem steht sie am Abend der »Proklam« mit ihren Klassenkameraden auf der Bühne, alle Mädels haben teuer frisiertes und aufgestecktes Haar, glänzende Maniküre in allen Farben des Regenbogens und glitzernde Stilettos. Nur die arme verspulte Ella hat keinen Friseurtermin mehr bekommen, ihre langen Haare verdecken ihr Gesicht wie ein Vorhang, und sie versteckt ihre abgebissenen Nägel schüchtern in den langen Ärmeln ihres Talars. Auf einem Tisch in der Mitte der Bühne, neben einem wagenradgroßen Blumengesteck, glänzt indes sanft der Tachkemoni-Pokal im Scheinwerferlicht, so nah und doch so unerreichbar.

Und das Ende der Geschichte? Natürlich hat Ella, mein kleines Genie, am Ende den Pokal eingeheimst, und mein Mann, dessen Name seit 1992 auch auf dem Pokal eingraviert ist, schwebt seitdem auf Wolke sieben. So stehen die beiden als einziges Vater-Tochter-Team auf dem silbernen Tachkemoni-Pokal. Ella, ich weiß, dass du nicht so auf Zeitungslektüre stehst, aber falls du das hier siehst: Ich bin wahnsinnig stolz auf dich.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025