Nach Purim ist vor Pessach. Es drängen sich in vielen Familien schon bald die Fragen auf: Wann werden die Mazzot gekauft? Wer putzt die Küche? Welche Gäste werden für den ersten und zweiten Seder eingeladen? In Zeiten von künstlicher Intelligenz (KI) wird Pessach zunehmend erträglicher, so die Vorstellung zumindest. Siri bietet Erste Hilfe, wenn es darum geht, zu wissen, wann der optimale Moment ist, Chametz zu verkaufen. Siri weiß es genau.
ChatGPT kann in Windeseile Koscher-le-Pessach-Rezepte aus dem Hut zaubern. Zudem würden sich Mazzot aus dem 3D-Drucker optimal gestalten lassen. Ob sie dann das genau gleiche Krümelpotenzial haben wie jene aus der Mazzebäckerei, ist nicht von großer Relevanz, die Vorstellung jedoch schon reizend. Fakt ist: Es ist nicht von der Hand zu weisen, KI ist in vielerlei Hinsicht vielversprechend. Auch was jenen Lebensbereich angeht, der sich mit der Religion beschäftigt.
Ausgedruckte Mazze krümelt nicht.
Es geht im Folgenden nicht darum, eine Abhandlung zu schreiben, um zu eruieren, wo die Berührungspunkte zwischen dem Judentum und KI liegen und wie erfahrbar das Judentum durch KI ist. Aber ein kleines Gedankenexperiment sei hier erlaubt, ganz im Sinne von »Was wäre, wenn?« Was, wenn bereits vor mehr als 5000 Jahren KI existiert hätte? Wie hätte dann überhaupt jüdische Tradition entstehen können? Hätte sie von Generation zu Generation überlebt? Beginnen wir bei der Entstehung der Welt: Gewiss wäre die Welt nicht aus dem 3D-Drucker gerutscht, aber irgendjemand muss sie wohl »designed« haben. Welche Algorithmen hätten den Tag und die Nacht zu jenen erfahrbaren Zuständen gemacht, die das Leben bis heute grundlegend strukturieren? Und was ist mit der Tora? Aus wessen Feder wäre sie entstammt? Aus keiner.
ChatGPT hätte irrwitzigerweise Metaphysik diskursiv geschaffen, um später präziseste Antworten auf rabbinische Fragen zu liefern. Doch nun zur Gretchenfrage: Wer hätte den Menschen kreiert? Wer nur? Das religiöse Weltbild beginnt zu erodieren, wenn KI als Substitut für Gott verwendet wird.
Pessach liegt noch fast in weiter Ferne.
Jeder Mensch ist frei, zu glauben oder nicht zu glauben, aber ein metaphysisches Gruseln ergreift einen tatsächlich beim Gedanken, dass KI, wenn auch vom Menschen entwickelt, eine autonome Kraft darstellt, die heute vielleicht noch an ihre Grenzen stößt, aber irgendwann jene Eigendynamik einnimmt. Alles nur Hirngespinste? Gut möglich. Pessach liegt noch in weiter Ferne beziehungsweise es wird zumindest erst in ein paar Wochen ernst, wenn die ganze Chametz-Logistik ihren Auftakt nimmt.
Davor überlege ich ohne die Hilfe von ChatGPT, wie ich meinen Kindern am sinnvollsten den Auszug aus Ägypten erklären soll. Das ist der immer wiederkehrende Moment von Pessach, an dem Mythos und Logos zur Symbiose werden. Wenn dann meine Tochter als die Jüngste am Tisch irgendwann am Seder ihr eignes »Ma Nischtana« singt, spätestens dann wird klar, dass Judentum nicht im algorithmischen Reagenzglas entstanden ist, sondern das Resultat jahrhundertealter Tradition und Geschichte ist.