Viele Juden, die ich kenne, sind stolz darauf, dass sie Weihnachten ignorieren und Silvester stoisch ertragen – weil Rosch Haschana doch viel tiefsinniger sei. Seitdem die Böllerei in Berlin vor einem Jahr bürgerkriegsähnliche Formen angenommen hat, gebe ich ihnen recht. Der private Raketenterror sollte endlich verboten werden. Vor allem auf dem Dürerplatz in Friedenau, um den wir in der Silvesternacht einen großen Bogen gemacht haben. Wobei … Schön war das Neujahrsfeuerwerk über den Dächern der Hauptstadt dann doch. Aber nur, wenn man es von einem sicheren Posten im 5. Stock in Wilmersdorf aus beobachtet.
Mit Weihnachten ist es komplizierter. Denn ich habe tatsächlich … ähm … ja, ich habe Christbaumkugeln vermisst! Viele Jahre waren wir über die Feiertage bei den Schwiegereltern, haben uns am geschmückten Baum erfreut, an den Strohsternen, den Kugeln und den Kerzen. Danach wurden wir mit Gans aus dem Ofen, Klößen und Rotkohl beköstigt.
Am 24. Dezember zu dritt in unserer Berliner Wohnung
Diesmal aber saßen wir am 24. Dezember zu dritt in unserer Berliner Wohnung. Statt Gans gab es Entenbrust. Genauer gesagt Tiefkühl-Ente, die frische war ausverkauft. Nach dem Essen hatten wir Bauchschmerzen. Und ich das Gefühl, etwas Wesentliches verpasst zu haben. Besinnlichkeit. Hoffnung. Heile Welt.
Zum Glück lebe ich in der »Entwicklungsstadt Berlin«. So steht es auf der großstädtischen Website, die über Sanierungsarbeiten am Gendarmenmarkt im Stadtteil Mitte aufklärt: »Jede Zeit baut ihre Stadt.« Das bedeutet unter anderem, dass der Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt immer noch so heißt, aber nicht mehr dort steht, sondern an der Staatsoper Unter den Linden – und das auch nach der Weihnachtszeit, also noch am 30. Dezember. Mein Mann war fassungslos. Als Sachse hat er Prinzipien: Er lehnt es ab, vor Beginn der Adventszeit Dresdner Stollen zu essen. Ein Weihnachtsmarkt kurz vor Silvester und dafür bezahlen? Für ihn der Gipfel der Absurdität.
Zum Glück haben wir Freunde, die weniger prinzipienfest sind als wir. Eine jüdische Freundin, die alle Feste liebt, hat uns den Eintritt ins Weihnachtsparadies (zwei Euro pro Person) spendiert. Glühwein! Punsch! Ein riesiger Tannenbaum! Überall Sterne! Und Kunsthandwerk, so weit das Auge reicht!
Baumschmuck in Form von Davidsternen
Es gab Baumschmuck in Form von Davidsternen. Rot, weiß und golden. Am liebsten hätte ich alle auf einmal gekauft. Und Schwibbögen, sechszackige Schneeflocken und Engel mit goldenen Flügeln. Eine Idylle auf Vorrat. Aber die absolute Krönung war die Musik. Eine Tänzerin wiegte sich auf der Bühne hin und her und ließ Hula-Hoop-Reifen um ihre Hüften kreisen. Dazu sang sie den jiddischen Gassenhauer »Bey mir bistu scheyn!«.
Was lernen wir daraus? Dass religiöses Fremdgehen letztendlich doch zur Ursprungskultur zurückführt? Wie auch immer, ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, ob Christen, Juden, Muslimen oder Atheisten, ein gutes neues Jahr 2024 – und ab und zu ein Stückchen heile Welt.