Passend zum Reuemonat Elul ist mir ein Zitat unseres früheren Gesundheitsministers eingefallen: »Wir werden einander viel verzeihen müssen.« Gleich danach hat Dr. Google mir offenbart, dass Jens Spahn letztes Jahr sogar ein Buch mit demselben Titel geschrieben hat.
Nein, das ist keine Werbung, ich erinnere mich sehr ungern an Corona-Zeiten, und auch der Untertitel zieht definitiv nicht rein: »Wie die Pandemie uns verändert hat – und was sie uns für die Zukunft lehrt. Innenansichten einer Krise«. Aber der Titel, der hat echt was. Und kurz vor den Hohen Feiertagen sollten wir uns doch alle auf diesen versöhnlichen Sound einstimmen. Nicht wahr?
schofarblasen Komisch nur, dass in manchen Gemeinden trotz täglichen Schofarblasens seit Rosch Chodesch Elul eher disharmonische Vibes rüberkommen. Manchmal frage ich mich, ob es bei den nichtjüdischen Mitbürgerinnen auch so läuft – und ob Rechtsanwälte an Christen und Muslimen genauso gut verdienen wie an uns. Irgendwie kann man heute fast nichts mehr schreiben, ohne dass vorher ein Anwalt draufschaut – weil alle anderen Juden auch Anwälte haben und einen im Zweifelsfall mit Abmahnungen beglücken.
Und war das früher auch schon so, dass Rabbiner das Urteil eines Beit Din nicht akzeptieren und stattdessen zu weltlichen Gerichten rennen? Damit will ich nichts gegen das Prinzip »Dina deMalchuta Dina« gesagt haben – das Gesetz des Landes gilt selbstverständlich auch für uns.
Die echte Herausforderung ist es, an Jom Kippur diejenige Synagoge aufzusuchen, wo einen nicht einmal der Rabbi leiden kann.
Was andererseits bedeutet, dass wir vom Zeitgeist beeinflusst werden, und der präsentiert sich leider übellaunig. Das Wirtschaftswachstum in Deutschland ist längst nicht mehr das, was es einmal war, die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefällt immer weniger Leuten, und selbst in Indien sind die Züge pünktlicher als bei der Deutschen Bahn. Aber deutsche Anwälte verdienen blendend. Ist das gut oder schlecht für die Juden? Kommt im Zweifelsfall darauf an, ob man den Juristen selbst bezahlen muss.
Wie auch immer, es bleiben noch drei Wochen Zeit für die Teschuwa. Spätestens an Jom Ha-Din, dem »Tag des Gerichts« an Rosch Haschana, treffen wir uns alle beim Gottesdienst. Ein Freund von mir hat angekündigt, die Synagoge wechseln zu wollen – weil in seiner Synagoge zu viele Leute sind, mit denen er sich verkracht hat.
herausforderung Ich hingegen finde, die echte Herausforderung ist es, an Jom Kippur diejenige Synagoge aufzusuchen, wo einen nicht einmal der Rabbi leiden kann (ob ich mich das traue, weiß ich aber noch nicht). Und nach dem Fastenbrechen geht man freundlich auf den Kontrahenten zu und überreicht ihm das Buch Wir werden einander viel verzeihen müssen.
Mal sehen, wie das Geschenk ankommt. Aber wahrscheinlich läuft es auch dieses Jahr wieder so wie in dem alten Witz: Treffen sich zwei Anwälte an Jom Kippur in der Synagoge. Der eine fasst sich ein Herz, wendet sich strahlend an seinen Konkurrenten und erklärt: »Ich wünsche dir alles, was du mir wünschst!« Der andere räuspert sich wütend und zischt: »Das sieht dir ähnlich. Fängst du schon wieder an?«