Ich bin in einem kleinen Schweizer Dorf aufgewachsen. Im Geografieunterricht habe ich später gelernt, dass mein Geburtsort als Schlafstadt bezeichnet werden kann. Das bedeutet: Bei uns schläft man nur. Die Arbeitsstätte ist anderswo, und eingekauft wird in der nächsten Stadt.
In den 80er-Jahren war die Familie Frenkel die einzige jüdische Familie im kleinen Dörfchen. Wir waren nicht sehr religiös und versuchten, so wenig wie möglich aufzufallen. Die Synagoge befand sich ziemlich weit außerhalb. Mein Vater und ich liefen am Samstagmorgen etwa eine Stunde hin und eine zurück. Damals gab es nur eine Straße, und wir gingen die ganze Strecke auf dem Trottoir. Wenn uns der öffentliche Bus entgegenkam, sahen wir immer die Dorfbewohner zu uns rausgucken. »Schau, die Frenkeljuden laufen wieder zur Synagoge!«
krippenspiele Im Dorf gab es viele Judenliebhaber, die mir »Schalom« zuriefen. Angenehm war das nicht. Während meiner Schulzeit dann erhielt ich bei den Krippenspielen ziemlich prominente Rollen: König, Schafhirt, Schaf und in der fünften Klasse sogar den Josef.
Das Leben als Jude im Exil hat mich sehr geprägt. Ich habe gelernt, dass es besser ist, seine Religion für sich zu behalten, als damit hausieren zu gehen. Noch heute trage ich nur in der Wohnung eine Kippa. Wenn ich schnell rausgehe und die Zeitung holen möchte, lege ich die Kopfbedeckung immer beiseite. Meine Frau ärgert sich über dieses Verhalten. Ich weise sie dann jedes Mal darauf hin, dass sie eben nicht im Aargau aufgewachsen ist.
Bei meiner Tochter ist alles anders. Sie geht in Zürich in einen jüdischen Kindergarten und lernt mit Eifer die jüdischen Gebete und Lieder. Wenn wir in der 7er-Tram sitzen, ist es für sie völlig normal, laut und inbrünstig das Morgengebet zu singen. Ich sage ihr immer wieder, sie soll den Schnabel halten und dass wir nicht in der Synagoge sind. Dann ist es eine Minute still. Bis sie mich sorgenvoll fragt: »Papi, kommen die Nichtjuden hier alle in die Hölle?« Entsetzt weise ich sie zurecht und beruhige die Zuhörer: »Blödsinn, liebe Menschen kommen in den Himmel.«
wischgeräusche Natürlich ist es mittlerweile mucksmäuschenstill geworden in der Tram. Man hört nur noch die Wischgeräusche der Handys. Und man hört die Stimme meiner Tochter: »Aber Papi, ich glaube nicht, dass alle Menschen hier in den Himmel kommen. Die Frau dort vorne isst ein Schinken-Sandwich! Das ist nicht koscher!« Ganz unrecht hat die Kleine natürlich nicht. Am frühen Morgen ein Sandwich in der Tram zu essen, ist tatsächlich keine gute Tat.
Ich aber flüstere meiner Tochter ins Ohr: »Sei jetzt bitte ruhig. Wenn du still bleibst, bekommst du am Kiosk ein Pferde-Heftchen.« Entzückt jubelt sie: »Toll, ich werde eben belohnt, gell? Aber die Frau da vorne kommt nicht in den Himmel, bitte Papi!« Mal schauen. Ich finde aber, dass zumindest ich es verdient habe. Dort soll es ruhiger sein.