Ich würde mich selbst ja nicht gerade als die hippste oder stylishste Person der Welt bezeichnen. Da ist auf jeden Fall noch Luft nach oben. Aber was macht das schon, wenn man so trendige Verwandtschaft hat wie ich, allen voran meine oberfashionable Nichte Yaeli, die unser aller Style-Guru und Personal Shopper ist. Neulich fand sie für mich den allerzauberhaftesten Lippenstift, den ich je hatte. Ich sah umwerfend aus!
»Lippy« hieß er. So ein über-gehyptes Label aus L.A. Lippy war sündhaft teuer, aber jeden Cent wert: Er war cremig und sahnig, hatte eine unglaubliche Farbe und hielt stundenlang! Ich und mein neuer Lippy wurden schnell beste Freunde, ich nahm ihn überall mit hin, bekam jede Menge Komplimente (ich liebe Komplimente!), und sogar mein öder Büroalltag wurde aufgepeppt.
büroaufzug Jeden Morgen im Büroaufzug holte ich ihn raus und zog mir schnell die Lippen nach: Bis er mir eines Morgens aus der Hand glitt und zu Boden fiel. Der Aufzug hielt, die Türen öffneten sich, Lippy rollte in Richtung Ausgang – und verschwand mit einem leisen Klack-Geräusch im schwarzen, tiefen Aufzugschacht. Ich war starr vor Schreck, rannte völlig hysterisch die sechs Stockwerke runter und bettelte den Hausmeister an, den Aufzugschacht für mich zu öffnen. Der hatte aber keinen Schlüssel, den hatte nur die Aufzugwartungsfirma, die erst wieder im März 2024 anrücken würde.
Ich versuchte in meiner Verzweiflung, online einen neuen Lippy zu erstehen, aber wie das nun mal so ist mit den gehypten Produkten: Sie sind ständig ausverkauft. Ein einziger Lippy war noch online zu finden, aber der konnte nicht nach Antwerpen versendet werden: Ich ließ ihn also zu meinen Eltern schicken, wo er einige Tage später eintraf.
So ein über-gehyptes Label aus L.A. Lippy war sündhaft teuer, aber jeden Cent wert.
Dummerweise wurde die Stadt aber von einer Hitzewelle heimgesucht, und als meine Mutter das Lippy-Päckchen öffnete, befand sich dort nur noch eine klebrig geschmolzene Masse, die sie erst von ihren Fingern abschaben musste und dann sofort retour schickte. Ich war am Boden zerstört. Inzwischen hatte die Hitzewelle auch Antwerpen erreicht. Zu Hause machte die Klimaanlage schlapp, im Büro ging der Aufzug kaputt.
techniker Eines Morgens stand ein ölverschmierter Techniker im Overall vor dem Aufzug und schraubte an der Anlage herum. »Joooahh«, nuschelte er, als ich ihn nach Lippy fragte. Da war wohl so etwas wie ein Lippenstift im Aufzugschacht gewesen, und er habe ihn entsorgt. »ENTSORGT?« Ich stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich gab dem Mann zu verstehen, dass ich mich durch eine ganze Müllhalde graben würde, um meinen Lippy wiederzufinden.
Der ölverschmierte Typ musterte mich kurz und sagte, ich möge ihm folgen. Ich fand mich in der Tiefgarage wieder, wo der Ölverschmierte seinen versifften Transporter öffnete und sich durch staubige Kabel, schmuddelige Boxen und ölige Fetzen vorarbeitete, bis schließlich, ganz ganz unten, in einen relativ sauberen Lappen gewickelt, mein Lippy zum Vorschein kam! Ich fiel meinem neuen Freund um den Hals und wollte ihn in meinem Glückstaumel zum Kaffee einladen, aber er zuckte zurück und machte, dass er wegkam.
Er hielt mich anscheinend für völlig plemplem. Desgleichen mein Chef und meine Kollegen, als ich mit Spinnweben im Haar endlich wieder in meinem Büro ankam. Egal! Lippy und ich sind wieder vereint! Und ich stehe auf drei Online-Wartelisten für die nächste Lippy-Lieferung aus L.A. Wenn ich 50 Stück kaufe, gibtʼs Rabatt! Wollen Sie auch Ihren eigenen Lippy? Sie wissen ja, wie ich zu erreichen bin.