Glosse

Der Rest der Welt

Auf das Leben! Foto: Getty Images

Wir schreiben den 22. April 2018. Es läutet an der Tür. Mit schlafverklebten Augen taste ich mich ins Wohnzimmer. Ich trage meine rosa Fluffy- Bunny-Hausschuhe und einen verwaschenen Pyjama, meine Frisur ist zerdrückt, mein Make-up leicht verschmiert. Im Arm trage ich eine halb geschmolzene Jumbo-Packung Häagen Dazs, die noch auf meinem Nachttisch stand.

Ich öffne die Wohnungstür, davor eine johlende Menschenmenge, sie tragen Blumenbouquets, Heliumballons steigen an die Decke. Happy Birthday!, singen sie. Ich versinke beinahe im Erdboden. Das angeschmolzene Eis verstecke ich eilig hinter dem Sofa, wo es weiter vor sich hinschmilzt, bis irgendwann eine klebrige rosa Masse unter dem Sofa hervorsickert und einigen Gästen ihre Louboutin-Pumps für immer ruiniert. Noch immer reden einige dieser Personen nicht mit mir.

Bescheid Das war mein Geburtstag vor fünf Jahren. Seitdem hat meine Familie strikteste Anweisungen, keine Überraschungspartys mehr für mich zu schmeißen, ohne mir vorher Bescheid zu sagen! Und jetzt ist es wieder so weit. Es ist mein 50., und mein Mann will eine Party für mich organisieren. So weit, so gut. Aber nach dem letzten Debakel überlasse ich nichts dem Zufall. Mein Outfit? Check! Kuchenbuffet? Check! Die Einladung: per WhatsApp. Dummerweise fällt mein Geburtstag dieses Jahr auf einen Samstag. Partys am Samstagnachmittag sind in Antwerpen eine echte Herausforderung, denn die meisten versinken nach dem schweren Schabbat-Mahl in ein koma-artiges Mittagsschläfchen und verpennen so jedes noch so aufregende Nachmittagsprogramm. Ich sehe mich schon einsam auf dem Sofa sitzen, umgeben von einigen verschrumpelten Ballons, und mich traurig und allein durch mein Kuchenbuffet mampfen. Doch mein Mann beschließt, dafür zu sorgen, dass die Bude richtig voll ist. Er verschickt die WhatsApp-Einladung zu meinem runden Geburtstag einfach an sein gesamtes Adressbuch!

Der große Tag rückt heran, ich bin bereits seit Freitagabend aus dem Wohnzimmer verbannt. Punkt 15 Uhr am Samstagnachmittag werde ich hineingerufen. Die Kids haben das Wohnzimmer dekoriert: bunte Luftschlangen, Girlanden, Ballons. Mein kleiner Salon ist voll wie ein Bahnhofs-Wartesaal, alle jubeln, singen, werfen Konfetti in die Luft. Ich werde auf einen Stuhl gesetzt und hochgehoben, danach taumele ich leicht schwindlig durch die Gästemenge, alle wollen mit mir anstoßen. Die Stimmung ist fantastisch.

Stadt Alain hat wirklich die halbe Stadt eingeladen, die meisten kennen sich gar nicht, ich versuche, die einzelnen Gäste einander vorzustellen, merke aber schon bald, dass ich viel zu weggetreten bin – aufgedreht und schwindlig von dem Karussell mit netten Leuten, das sich um mich dreht: ein fantastischer Mix aus Sheitel, langen Kleidern, High Heels, engen Jeans und Miniröcken, den man so in Antwerpen nicht oft sieht. Ich muss mich kurz in mein Schlafzimmer am anderen Ende der Wohnung verziehen, um mich etwas zu sammeln.

Ich öffne das Fenster, setze mich auf mein Bett und atme tief durch. Vom anderen Ende der Wohnung wehen Gelächterfetzen und brummende Partystimmung herüber. Meine Party! Es ist ein wunderbares Gefühl. Gut, dass mein Mann ein Jahr jünger ist als ich. Er wird nächstes Jahr 50! Dann schmeiße ich ihm genau so eine Party. Kann’s kaum abwarten!

Schoa

»Warum hat er uns das nie erzählt?«

Was geschieht, wenn eine jüdische Familie ein lange verschlossenes Kapitel der Vergangenheit öffnet

von Mascha Malburg  07.11.2024

Kolumne "Shkoyach"

Mit Skibrille zur Vernissage oder Kultur als Krisengebiet

Warum sich das örtliche Kunstmuseum einer mittelgroßen Stadt in Deutschland kaum von der documenta unterscheidet

von Eugen El  07.11.2024

Kultur und Unterhaltung

Sehen, Hören, Hingehen

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 31. Oktober bis zum 7. November

 07.11.2024 Aktualisiert

Literatur

»Schwarze Listen sind barbarisch«

Der Schriftsteller Etgar Keret über Boykottaufrufe von Autoren gegen israelische Verlage, den Gaza-Krieg und einseitige Empathie

von Ayala Goldmann  07.11.2024

Sehen!

»I Dance, But My Heart Is Crying«

Die Plattenlabels Semer und Lukraphon veröffentlichten noch bis 1938 Musik von jüdischen Künstlern – davon erzählt ein neuer Kinofilm

von Daniel Urban  07.11.2024

Interview

»Wir stehen hinter jedem Film, aber nicht hinter jeder Aussage«

Das jüdische Filmfestival »Yesh!« in Zürich begeht diese Woche seine 10. Ausgabe, aber den Organisatoren ist kaum zum Feiern zumute. Ein Gespräch mit Festivaldirektor Michel Rappaport über den 7. Oktober und Filme, die man zeigen soll

von Nicole Dreyfus  06.11.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Sukka-Fishing oder Sechs Stunden täglich auf dem Hometrainer

von Margalit Edelstein  06.11.2024

Meinung

Wir erleben eine Zäsur

Eine Resolution zum Schutz jüdischen Lebens ist in Deutschland nicht mehr selbstverständlich. Was bedeutet das für unsere Zukunft?

von Ayala Goldmann  05.11.2024

Film

Debatte gegen den Tod

Jurijs Saule inszeniert in »Martin liest den Koran« provokant eine thrillerhafte Diskussion über religiösen Extremismus und die Auslegung von Glaubensgeboten

von Jens Balkenborg  05.11.2024