Glosse

Der Rest der Welt

Auf der Bühne der Deutschen Oper drehte sich die szenische Inszenierung auch um Greta und den Klimawandel. Foto: Marcus Lieberenz/bildbuehne.de

Mein Sohn ließ mich wissen, die Chorprobe werde drei Stunden dauern. »Was probt ihr denn so lange?«, fragte ich. »Die Matthäus-Passion.« Grundgütiger Himmel! Würde der Junge »Lass ihn kreuzigen!« anstimmen? In der Deutschen Oper, vor den Ohren von halb West-Berlin? »Ich singe nicht«, erläuterte der Sohn. Ein Glück, der Stimmbruch! Aber ich hatte mich zu früh gefreut: »Szenische Inszenierung. Ich bin Kreuzträger.«

Muss ich so etwas erlauben? Kann ich einem 14-Jährigen die Musik von Bach verbieten? Als Jüdin mit solider Halb-Bildung kenne ich die Matthäus-Passion (wenngleich nur von der CD), aber Kreuzträger? »Das sind die Guten. Weil sie Jesus helfen«, klärte mich ein Freund auf.

Muss ich so etwas erlauben? Kann ich einem 14-Jährigen die Musik von Bach verbieten?

Ich war nicht beruhigt. Mein Sohn, fand ich, sollte eine informierte Entscheidung treffen. »Die Passion beruht auf der Übersetzung von Martin Luther«, warnte ich ihn. »Ist die Übersetzung das Problem oder das Original?«, wollte er wissen. Gute Frage. »Was ist mit der Selbstverfluchung der Juden? Singt man die, oder wird sie gestrichen?«, forschte ich. »Keine Ahnung.«

Rücken Nach der Probe löcherte ich meinen Sohn erneut. »War das Kreuz schwer? Hast du Rückenschmerzen?« »Nein, ging schon.« »Ihr habt also drei Stunden das Kreuz hin und her getragen?« »Genau.« »Ist es sehr groß?« »Mann, Mama! Du bist hier die Einzige, die sich für das Thema Kreuz interessiert!« Der Sohn verschwand in seinem Zimmer.

Die Premiere war am Freitagabend. Natürlich würde ich niemals absichtlich den Schabbat brechen, erst recht nicht, um einem christlichen Oratorium zu lauschen. Aber ich muss doch wissen, was mein Sohn treibt. Zum Glück begann die Vorstellung um 18 Uhr. Ich habe das vorher geprüft: Der markerschütternde Chor »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« würde lange vor Schluss ertönen.

Mein Timing stimmte, die Selbstverfluchung der Juden erfolgte vor Sonnen­untergang. Der richtige Zeitpunkt, um zu verschwinden: Ich bin zu Fuß nach Hause gegangen.

Drei Chöre, ein vierfach geteiltes Orchester und das Evangelium – für mich wäre das mehr als genug gewesen. Dajenu!

Auf dem Weg verfolgten mich spitze Stimmen. »Lass ihn kreu–heu–zigen!« Also doch lieber Zensur? Oder eine Triggerwarnung in jedem Neuen Testament: »Diese Schrift könnte jüdische Leserinnen beleidigen«? Nein! Das wissen wir doch sowieso. Im Programmheft standen übrigens viele Infos über alle relevanten Judenfeinde, das finde ich korrekt. Aber ob das jeder liest?

Chöre Auf der Bühne, unter einem Riesen-Bildschirm, drehte sich die szenische Inszenierung auch noch um Greta und den Klimawandel. Überdies wurde aus der Apokalypse des Johannes zitiert. Drei Chöre, ein vierfach geteiltes Orchester und das Evangelium – für mich wäre das mehr als genug gewesen. Dajenu!

Ich muss aber zugeben, dass Bachs Musik alles übertrifft. Auch deshalb will ich wieder in die Matthäus-Passion. Denn das Ende habe ich ja verpasst. Und mein Sohn? Der war gar nicht da. Er ist erst für die Aufführung an Christi Himmelfahrt als Kreuzträger eingeteilt. Das ist zum Glück kein Schabbat!

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

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»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

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Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

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Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

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Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

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»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

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