Geschenke an die Armen sind an Purim ein Gebot. In der Berliner S-Bahn hätte ich dazu jeden Tag Gelegenheit: Seit gut zwei Wochen fährt meine Linie, die S1, wieder durchgehend. Stammgäste waren schon vor den wochenlangen Bauarbeiten an der Strecke zwei Obdachlosenzeitungsverkäufer – ich nenne sie hier Alex und Egon.
An die beiden habe ich mich gewöhnt. Die Zeitungen mag ich nicht, aber neulich habe ich Alex mal wieder eine abgekauft. Es war dann aber gar nicht die Obdachlosenzeitung, sondern ein englischsprachiges Umsonst-Magazin mit Veranstaltungshinweisen vom vorvergangenen Monat. Nicht, dass die Obdachlosenzeitungen besser wären: Ich erinnere mich an lange Artikel, die den Kapitalismus anprangern, inmitten von Bleiwüsten fast ohne Fotos. Okay, es sind Sozialprojekte, aber irgendein Lesegenuss könnte bei einem Bezahlblatt doch drin sein?
Grantelig Das fand ich jedenfalls vor mehr als 20 Jahren, als ich mich als Journalistin in Berlin selbstständig machte. Weil ich damals wenige Aufträge hatte, rief ich in der Redaktion der »motz« an. Ich glaubte nämlich, dass die Zeitung auf die Unterstützung von einer professionell ausgebildeten Journalistin wie mir nur gewartet hätte. »Motz und Konsorten«, meldete sich eine grantige Berliner Stimme. »Bin ich hier richtig bei der Obdachlosenzeitung motz?«, fragte ich. »Das sagte ich bereits«, schnarrte die Stimme. Ich begann, meine Qualifikationen anzupreisen, wurde aber abgewürgt: »Unser Chefredakteur wird sich bei Ihnen melden!«
Tagelang saß ich neben meinem Festnetztelefon. Wer natürlich nicht anrief, war der Chef. Seitdem kaufe ich die »motz« nicht mehr. Strafe muss sein. Manchmal aber, wenn es kalt ist und Alex und Egon mir leidtun, gebe ich ihnen zwei Euro, um die Konkurrenz zu unterstützen.
Doch seit dem vorläufigen Ende der Bauarbeiten an der S1 musste ich feststellen, dass Egon und Alex längst in der Minderheit sind. Zwischen Schöneberg und Oranienburger Straße begegnen mir jetzt jeden Tag etwa zehn Menschen, die ganz ohne Zeitung etwas von mir wollen – fünf in jede Richtung. Seien es 70 Cents für einen Fahrschein, etwas Geld für Essen und Trinken oder einfach nur Geld. Ich erkläre mir das mit dem Krieg, der Inflation, gestiegenen Heizkosten und Migration. Leider kann ich nicht alle Probleme lösen.
Peter Fox Zum Glück sind an Purim nicht nur Geschenke an die Armen eine Mizwa, sondern auch Verkleidungen. Am Dienstag werde ich in der S-Bahn meine legendäre Gorillamaske aufsetzen und mich spendabel zeigen. Wer »ein bisschen Kleingeld« braucht, kann in der S1 nach dem Stadtaffen suchen. Wie Peter Fox singt: »Schön, dass ich der angesagte Affe bin!«
Aber am Affen-Aschermittwoch (zur Info: das ist kein offizieller jüdischer Feiertag) ist alles vorbei! Ich lege großen Wert darauf, dass niemand mich wiedererkennt. Neulich wurde ich in der S-Bahn angemacht, weil meine Berlinale-Akkreditierung zu sehen war. »Na, Spaß im Kino gehabt? Für Bedürftige sind die Tickets zu teuer!«, giftete mich eine Mitfahrerin an. Aber was kann ich dafür, habe ich etwa die Preise gemacht? Bin ich froh, dass Purim nur einmal im Jahr ist!