Ich bin zum ersten Mal hier. Um den ausladenden Esstisch ist ein Häufchen moppeliger Frauen mit Scheitel gruppiert. Daneben ein Flipchart mit Fotos von fettigen Delikatessen mit zugehöriger Kalorienzahl: Kigel, Blintzes, Kischke, Tschulent sowie Beigel und Kokosch als Dessert. An der Seite hängt ein blauseidenes Banner: »Welcome to The Jewish Star Diet« Denn hier bin ich unglaublicherweise heute abend gelandet. Ich wollte eigentlich nur ein paar Kilos verlieren und befinde mich jetzt in einer Art Vorhölle der koscheren Cuisine.
Und schon betritt Chomi, der gefürchtete Diät-Coach, den Plan. Auf ihren knochigen Hüften kann ich kein Gramm Fett entdecken. Stramm sitzt der staubige Scheitel unter dem Kopftuch in düsteren Farben. »Shvere Tsaytn!!« – zischt Chomi zur Begrüßung und äugt unter buschigen Augenbrauen in die moppelige Runde
Hamantaschen Heute abend predigt die dürre Chomi ihren Schäfchen Zurückhaltung angesichts der nahenden Purim-Feiertage mit ihren üppigen Menüs. »Reisi!«, donnert Chomi, und Reisi rückt erschrocken ihren Scheitel zurecht, »KEINE Knisches und Kreplach dieses Jahr – gedenk Dir van di faryorig Desaster! Faygi! Hamantaschen mit Diätfüllung für Dich! Malki!! Die Schlachmones sind NICHT zum Essen da ... verschenk sie einfach weiter! Und Du ....« setzt sie an und lässt Ihren knochigen Blick über mich gleiten.
Unwillkürlich ziehe ich den Kopf ein »Ab auf die Waage!« Mitten im Zimmer steht ein chromfarbenes Monstrum von einer Personenwaage aus den 60er-Jahren. Alle halten einen gebührenden Abstand von diesem Instrument des Schreckens. Zitternd steige ich auf das Ungetüm, Chomi trägt missbilligend mein Gewicht in eine Karteikarte ein, und ich kann mich auf eine speckige Sofa-Ecke zurückziehen und entspannen. Ich lasse meinen Blick über die Wände schweifen:
Alle fünf Zentimeter ein anderes weich gezeichneten Blow-up-Foto von glücklichen, vollschlanken Kalles, streimeltragenden stämmigen Chossens und wohlgenährten Enkeln, Nichten und Neffen, sowie in den Schränken eine Selektion der schönsten Schlachmones-Körbe (ohne Inhalt) vom Vorjahr. Inzwischen nimmt das dramatische Wiege-Highlight unter Jammern und Kreischen seien Lauf. »Oi wej, bin ich mamesch geplatst von die Schewa Broches nechtn«, seufzt eine ausladende Blonde. »Take ayn feler tsy fressn auf die chasene!« klagt eine schwabbelige Rothaarige.
Nulldiät Danach nimmt mich Chomi beiseite und erklärt mir die Basics. Schabbes: futtern bis zum Anschlag, so wie alle anderen auch. Sonntag bis Mittwoch: strengste Eierküchlein-und-Saure-Gurken-Diät. Mittwochabend: Diät-Treff. Dann wässrige Hühnersupen-Nulldiät zur Buße und als Vorbereitung auf den kommenden Schabbes. Ich habe noch eine Frage: »Wie viele Kalorien hat eigentlich Sushi?«
Auf einmal herrscht Totenstille im Saal. Sämtliche Scheitels drehen sich zu mir um. Chomis Augen treten angsterregend aus ihrer knochigen Visage. Dann deutet ihr dürrer Zeigefinger zur Tür. »Aroys!«, zischt sie. Und schon ist es zuende mit meiner Jewish Star Diet. Ernüchtert und ausgehungert betrete ich die nächtlich leere Straße. Der nächste Sushi-Imbiss ist zum Glück gleich um die Ecke.