Mein Onkel ist gestorben. Er wurde über 80 Jahre alt. Nach dem Tod betraten wir seine Wohnung. Viele Kindheitserinnerungen kamen zurück, zum Beispiel der große Glaskrug mit den unkoscheren Süßigkeiten. Vieles mussten wir wegwerfen, anderes teilten wir auf. Ich durfte seine alten Tefillin erben. Und die jüdischen Bücher.
Im Wohnzimmer stand ein riesiger Tisch. Ein Louis-XV-Tisch. Ich weiß das, weil er es in seinem Testament festhielt. Der Tisch sei das Wertvollste, ließ er uns wissen, der Wert etwa 7000 Euro. Für uns bedeutete das, dass wir 2100 Euro Erbschaftssteuer bezahlen mussten, so ist das in der Schweiz.
Louis XV. Niemand in unserer Familie ist ein Louis-XV-Tisch-Fan. Er ist zu monströs, zu schwer und ziemlich abgewetzt. Der Tisch ist etwas kleiner als der von Putin, aber immer noch zu lang für mein Arbeitszimmer. Ich setzte mich hin in der Wohnung meines verstorbenen Onkels und dachte darüber nach, wie wir das Holzteil am besten entsorgen können. In der Schweiz gibt es nicht so viele Diktatoren, die daran Freude hätten. Ich stützte meine Arme auf den Tisch und schrie: »Frau Knollebrolle, wo sind die Dokumente?« Das fühlte sich sehr gut an. Wer an so einem Louis-XV-Tisch sitzt, hat Power.
Die Möbelpacker, die den Tisch in den dritten Stock ohne Lift hochwuchteten, müssen kräftig gewesen sein. Ich versuchte, den Tisch mit meinem Bruder ein bisschen hochzuheben, wir schafften es nicht.
Meine Freude an dem 7000-Euro-Erbstück verringerte sich von Stunde zu Stunde. Auf Wikipedia las ich, dass König Louis XV. (1710–1774) der «Ungeliebte» genannt wurde.
Das kann ich irgendwie nachvollziehen. Nun, wir räumten in den vergangenen Wochen die Wohnung leer. Eine Flüchtlingsfamilie bekam die Kleider, eine andere das Geschirr, die Bücher landeten auf der Straße. Zum Schluss blieb nur noch der Tisch. Er wirkte noch wuchtiger als zuvor. Wir versuchten es nochmals, ihn hochzuheben, dieses Mal zu dritt. Wir schafften es bis zur Türschwelle. Dann war Endstation. Diagonal könnte man ihn wahrscheinlich durch die Tür bringen. Aber sehen wir so aus?
Zahnärzte Es gibt in Zürich ein jüdisches Umzugsunternehmen. Irgendwo habe ich gelesen, dass man jüdische Firmen unterstützen muss. Also jüdische Zahnärzte, jüdische Wohnungsmakler, jüdische Buchbinder. Das jüdische Umzugsunternehmen hat aber beim letzten Mal unser Sofa zerstört.
Ich rief ein nichtjüdisches Umzugsunternehmen an. Vier Männer kamen. Mit Geschick, Spucke und Gefluche transportierten sie den Tisch nach unten. Dann fuhren wir zu einem Auktionshaus. Im Frühling wird das gute Stück versteigert. Der Experte dämpfte aber schon einmal unsere Erwartungen: »Mehr als 1000 Euro werden Sie nicht kriegen.« Ist nicht mehr so schlimm. Hauptsache, der Tisch ist weg.