Das Jahr 5783 kann nur besser werden. Wenn wir an Erew Rosch Haschana in Berlin gemeinsam am Tisch sitzen, Äpfel in Honig tauchen und auf das neue Jahr anstoßen, endet am selben Abend die documenta in Kassel, die mir als Feuilleton-Redakteurin monatelang den letzten Nerv geraubt hat. Und nicht nur mir, sondern der gesamten Redaktion samt freier Mitarbeiter mit Extra-Recherchen, Überstunden und Kopfschmerzen. Schehechianu! Wir haben fertig!
In Kassel, der »Nordhessen-Metropole«, wie manche sie nennen, musste ich Ende der 90er-Jahre meine ersten Berufsjahre als dpa-Redakteurin verbringen. Unnötig zu erwähnen, dass ich die Stadt nicht besonders mochte. Damals zitierte ich gern aus dem Standardwerk Öde Orte. Ausgesuchte Stadtkritiken: von Aachen bis Zwickau von 1998: »Noch heute ist Kassel die einzige Stadt der DDR, die im Westen liegt.« Ich konnte als Jungredakteurin ja nicht ahnen, dass Kassel einst zur einzigen Stadt des Globalen Südens avancieren würde, die in Nordhessen liegt.
documenta Aber nur bis Rosch Haschana! Seit Januar habe ich geduldig mit der Presseabteilung der documenta kommuniziert, um die Namen israelischer Künstler herauszubekommen, die angeblich zur Schau eingeladen waren – und die mir die Pressestelle nie nennen konnte. Jetzt bin ich glücklich, nicht mehr den Wortlaut von E-Mails enträtseln zu müssen, wie etwa »Die Beteiligten (…) wurden nicht aufgrund nationaler oder anderer Zugehörigkeiten, sondern aufgrund der Praxis der eingeladenen Beteiligten und deren Relevanz für und Kompatibilität mit der lumbung-Praxis zur documenta fifteen eingeladen« oder »Zeitzonen statt Angaben von Nationalitäten« oder »nationale, religiöse oder andere Zugehörigkeiten«, die nicht offengelegt werden sollten.
Also mit oder ohne Feigenblatt? Aus diesem passiv- und substantivlastigen elektronischen Kaffeesatz konnte ich nichts herauslesen, was irgendwie gut für die Juden gewesen wäre.
Für das neue Jahr suche ich deshalb – als säkulare Jüdin, die weder lumbung noch alle 613 Mizwot des Judentums praktiziert – neue Brieffreundschaften. Zeitzone, Nationalität und religiöse Zugehörigkeiten spielen keine Rolle. Ich lese auch Briefe auf Hebräisch! Hauptsache, die Autorinnen und Autoren kommen auf den Punkt und haben ein bisschen Humor.
weltuntergang Denn die nächsten Monate sollen nicht lustig werden. Stromausfälle, Inflation, Weltuntergang: Leider ist es uns Journalisten nicht möglich, die Nachrichten zu ignorieren – wir machen sie ja selbst. Aber wenigstens kann ich mich mit freundlichen Menschen umgeben und ein bisschen netter und toleranter sein als sonst.
Denn das ist das Gute an Rosch Haschana: Hier wird niemand ausgeschlossen, selbst den ätzendsten Urgroßcousin laden wir immer gerne ein. An einem jüdischen Tisch ist Platz für die gesamte Familie, während Kassel nicht überall ist. Lasst uns also gemeinsam das Glas erheben und während der Feiertage alle vergessen, die uns geärgert haben. Sie werden es auch im nächsten Jahr wieder tun. LeChaim und Schana towa!