Ich habe einen Sohn, der ist zwölf Jahre alt. In jüdischen Haushalten bedeutet das nichts Gutes. Wer zwölf Jahre alt ist, wird bald 13. Das heißt, er wird Barmizwa und ist dann Teil der jüdischen Gesellschaft, wird vollberechtigt zum Gottesdienst gezählt und muss für seine Taten selbst geradestehen. All das raubt jüdischen Eltern noch nicht den Schlaf.
Es ist vielmehr das teure und komplizierte Barmizwa-Fest. Die Feier bestimmt nun unsere Gespräche. Wo soll das Fest stattfinden, wer soll eingeladen werden, und was kostet die ganze Chose?
Detail Vieles kann ich meiner Frau überlassen. Sie organisiert den größten Teil und bespricht zum Glück nicht jedes Detail mit mir. Mir ist egal, was es zum Essen gibt. Es soll einfach nicht teuer werden. Was der Junge auf der Feier trägt? Mir egal, es soll einfach – genau – nicht teuer werden. Aber da ist noch eine Sache, die mich betrifft. Der Junge muss an seinem Fest etwas aus der Tora vorlesen.
Das haben unsere Weisen so bestimmt. Vielleicht aus der Überlegung heraus, dass man mit 13 Jahren nicht nur Geschenke bekommt, sondern auch etwas geplagt werden soll.
In unserer Gemeinde gibt es viele junge Männer, die für Geld Unterricht geben. Einen Teil übernimmt die Gemeinde. Stellt sich aber heraus, dass der Knabe unmusikalisch ist und mehr Unterricht benötigt, dann müssen die Eltern die anfallenden Kosten übernehmen. Ist wie beim Fahrunterricht, wo manche Eltern die ersten 20 Stunden übernehmen und den Rest der untalentierten Tochter (oder dem untalentierten Sohn) übertragen.
Singen Nun, ich kenne meinen Sohn. Er kann jetzt bereits viel. Er bohrt und werkelt wie ein Weltmeister. Singen tut er nicht so gerne. Ich kann es verstehen. Wir sitzen nun jeden Abend zusammen und üben seinen Wochenabschnitt. Das letzte Mal, als ich aus der Tora vorgelesen habe, liegt über 20 Jahre zurück. Viele Singzeichen sind mir entfallen. Ich improvisiere.
Mein Sohn muss mir nachsingen. Ich korrigiere. Er singt nochmals vor. Ich korrigiere wieder. Er sagt »Schei…«. Ich herrsche ihn an. Dann singe ich nochmals vor. Er wiederholt und macht wieder denselben Fehler. Jetzt sage ich »Schei…«. Mann, kann doch nicht so schwer sein, mir nachzusingen.
Ich gucke auf den Kalender. Noch ein halbes Jahr bis zu seiner Barmizwa. Wir sind bei Satz drei. Vor uns liegen noch 120 Sätze. Die Zeit rinnt uns davon. Ich schlafe schlecht. Und wenn ich schlafe, dann träume ich von der Barmizwa. Ich sehe ihn vor der offenen Torarolle. Er macht einen Fehler, sagt »Schei…« und rennt aus der Synagoge. Komisch ist nur, dass der Junge im Traum mir bis aufs Haar gleicht.