An den Winter-Lockdown will sich keiner erinnern – schon gar nicht in den Sommerferien. Auch in unserem Südtiroler Hotel ist die jüngste Vergangenheit ein auffallend unbeliebter Gesprächsstoff. Antworten auf entsprechende Fragen fallen karg aus. Das Thema scheint irgendwie peinlich.
Ich dagegen denke gerne an die entscheidenden Stunden zurück, die mich im Winter gerettet haben: Mitte Januar begann mein erster Jiddisch-Kurs. Wir versammelten uns spät am Abend im digitalen Meetingroom. Versanken in eine andere Welt, vergaßen die Inzidenzen. Das Alef-beys war eine Offenbarung.
schreibtisch Ich schwor mir, in Zukunft noch mehr Jiddisch zu lernen. Auch wenn ich von meinem anstrengenden Dasein am Schreibtisch so erschöpft war, dass ich während der abendlichen Zoom-Meetings mitunter die Kamera ausschalten musste – damit niemand sah, wie mir die Augen zufielen.
Im Frühjahr wurde der Jiddisch-Kurs fortgesetzt. Leider konnte ich an meine ersten Erfolge nicht anknüpfen. Denn schon in der Schule war ich begeisterungsfähig, aber faul. Doch Jiddisch ist eine Sprache, kein deutscher Dialekt, die jiddische Grammatik eigenwillig und lernt sich nicht von alleine. Trotzdem drückte ich mich vor den Hausaufgaben und improvisierte – oder duckte mich hinter meiner ausgeschalteten Videokamera weg, wenn ich gefragt wurde. Irgendwann wurde mir alles zu viel. Ich meldete mich vom Kurs wieder ab.
Aber ich bin nicht im Reinen mit mir selbst. Wozu habe ich Tränen der Rührung vergossen, weil ich endlich die Muttersprache meines Vaters verstehe? Weshalb bin ich eingetaucht in diese jüdische Kultur – eine, die das Herz berührt? Und wofür habe ich die Kursgebühren bezahlt?
urlaub Als ich meinen Koffer für den Urlaub packte, schob ich kurzerhand eine Kopie des Jiddisch-Lehrbuchs unter die Wanderschuhe. In Südtirol, beschloss ich, würde mich der Ehrgeiz packen, jiddische Grammatik zu pauken. Und anschließend wäre ich auf dem richtigen Stand, um im Herbst wieder einzusteigen!
Ich muss mich sowieso schon anstrengen, nicht alles durcheinanderzubringen, sonst fange ich noch an, die Kühe mit fehlerhaftem Jiddisch zu verschrecken.
Das war zumindest der Plan. Weit bin ich nicht gekommen. Aber immerhin sitze ich nun nach einer Bergwanderung mit Kuhglockengeläut und einem Riesenteller Kaiserschmarrn in meinem Hotelzimmer und kehre mit dem Lehrbuch von Uriel Weinreich in die Großstadt zurück: »New York ist eine internationale Stadt. Auf derselben Straße wohnen Juden, Italiener, Spanier, Griechen, Neger, Chinesen, Irländer.«
Die erste Auflage des Lehrbuchs ist von 1949. Das N-Wort haben wir im Jiddisch-Kurs mit »Afroamerikaner« übersetzt. Darf eine jüdische Zeitung ein politisch nicht korrektes jiddisches Wort ausschreiben? Zum Glück nicht mein Problem, meine Kolleg/innen sollen das entscheiden. Wozu bin ich im Urlaub?
wanderweg Ich muss mich sowieso schon anstrengen, nicht alles durcheinanderzubringen, sonst fange ich noch an, die Kühe mit fehlerhaftem Jiddisch zu verschrecken, wenn sie sich morgen wieder mitten auf den Wanderweg legen und sich weigern, uns zur Almhütte durchzulassen.
Also beantworte ich jetzt einfache Fragen von Uriel Weinreich aus Lektion 3 und wende sie erst in der Praxis an, wenn ich die perfekte Aussprache beherrsche: »Ver geyt spazirn? Voser tog iz haynt?«