Eigentlich sind sie zu Hause ganz nett zu mir. Kann mich nicht beklagen. Die Spülmaschine wird klaglos ein- und ausgeräumt, es werden keine Türen geknallt, die Kids reden immer noch in vollständigen Sätzen mit mir, anstatt mit urzeitlichen Grunzlauten zu kommunizieren. Ich habe nur ein Problem, das mich zunehmend frustriert: Man lässt mich nicht singen!
Akustik! Denn immer, wenn ich anfange, vor mich hinzuträllern, hagelt es Buhrufe von allen Seiten, sodass ich mich beschämt ins Badezimmer verziehe, um unter der Dusche meine Lieblingsarien zu singen. Im Bad ist eine fantastische Akustik! Aber auf die Dauer ist das irgendwie etwas einsam.
Mein geheimer Traum war es immer schon, im städtischen Chor mitzusingen, aber die haben mich auf die Warteliste gesetzt. Jetzt endlich, nach jahrelangem Warten, sind coronabedingt einige Plätze frei geworden! Viele Chormitglieder haben einfach keinen Bock, mit Maske und bei offenem Fenster zu singen. Mir ist das egal!
Dick eingepackt, mit einem professionellen Notenständer und einem Döschen Glycerintabletten für den Hals finde ich mich zur ersten Chorprobe ein. Es ist eiskalt im Probenraum. Alle halten sorgsam zwei Meter Abstand. Man drückt mir einen Packen Noten in die Hand. Ich sehe nur massenhaft Cis- und Fis-Kreuze, dreigestrichene Cs, Triolen und Legati – hätte ich doch nur besser im Musikunterricht aufgepasst!
Probezeit Der Chorleiter hebt seinen Taktstock, alle schmettern los. Die können anscheinend vom Blatt singen. Nur ich nicht! Verzweifelt versuche ich, irgendwie mitzuhalten. Nach der Probe passt mich die blonde Dame von der Chorleitung am Ausgang ab. Einen Monat Probezeit gibt es, lässt sie mich mit eisiger Stimme wissen. Ich könne ja daheim am Klavier üben, wenn es mit der Partitur noch Unklarheiten gebe. Wieso habe ich kein Klavier zu Hause? Nicht mal eine miese kleine Blockflöte liegt bei uns herum. Und mein Flötenunterricht ist schon über 30 Jahre her! In meiner Verzweiflung erstehe ich online ein Blockflöten-Komplettset mit Übungsheft. Die Kinder laufen nur noch mit Ohrstöpseln herum und werfen mir böse Blicke zu.
Bei der nächsten Chorprobe läuft es schon viel besser. Ich singe, was das Zeug hält. Bei schwierigen Stellen bewege ich einfach nur still die Lippen. Nach der Probe drückt mir die eisige Dame einen neuen Notenstapel in die Hand. »Für unseren ersten Auftritt in drei Wochen«, zischt sie. Auftritt? Was für ein Auftritt? Wieso hat mich niemand vorgewarnt? Fieberhaft übe ich Tag und Nacht an meinen Flötentönen, mein Mann ist aus unserem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen, die Kinder reden kaum noch mit mir, und ich habe vor lauter Stress zwei Kilo abgenommen, sehe hager und übernächtigt aus.
Flötentöne Da kommt eine Mail von der Chorleitung. Wegen verschärfter Covid-Regelungen sei das Konzert abgesagt. Erleichtert sacke ich in mich zusammen. Die Blockflöte gleitet aus meinen erschlafften Händen und fällt zu Boden. Aber das höre ich gar nicht mehr. Ich bin schon längst im Land der sanften Träume und der süßen Flötentöne. Wecken Sie mich doch bitte erst, wenn die nächste Chorprobe stattfindet.