Ich bin seit fast vier Monaten nicht mehr in die Synagoge gegangen. So schrecklich, wie sich das jetzt anhört, ist es aber nicht. Ich bete jetzt einfach zu Hause und gegen die Wand.
Was ich in der Synagoge nie mochte, entfällt nun ganz: die vielen Stellen im Gottesdienst, an denen sich die Gemeinde erheben muss. Sei es für ein Kaddisch, für das Ausheben der Tora – oder weil es halt so im Siddur steht. Ich bete jetzt nur noch im Sitzen und erlebe eine ganz neue Dimension der Gottesannäherung.
Schabbat Ich bekomme jede Woche eine E-Mail von der Gemeinde. Wer am Schabbat in die Synagoge kommen möchte, solle sich eintragen. Die Anzahl der Beter ist aber beschränkt.
Jede Woche vollbringe ich eine gute Tat und überlasse meinen Platz jemand anderem. Zum Glück sind nicht alle so wie ich. Als der Schweizer Bundesrat die Gottesdienste – unter Auflagen – wieder zuließ, wurden in einem Bethaus fünf Minuten nach Mitternacht zehn Männer zusammengetrommelt.
Aber auch in der schlimmsten Phase des Lockdowns gab es in Zürich immer Gottesdienste mit dem nötigen Quorum. In einem Wohnhaus traten einfach alle Männer auf den Balkon und beteten laut bis sehr laut. Die nichtjüdischen Nachbarn werden entweder Freude gehabt oder eine Mietminderung verlangt haben. Meine Nachbarn beschweren sich nie bei uns. Ich bete nämlich leise und schnell.
Minuten Manche Seiten im Gebetbuch lese ich quer, andere überfliege ich. Das Morgengebet dauert fünf bis zehn Minuten. Wenn ich so weiter mache, brauche ich nicht länger als andere für ihr Vaterunser.
Manchmal beschleicht mich so ein Gefühl, ich glaube, man nennt es schlechtes Gewissen. Zehn Minuten für Schacharit am Schabbat? Korrekt ist das nicht, ich weiß.
Normalerweise geht der Gottesdienst am Schabbat drei lange Stunden. Nicht eingeschlossen die Rede des Rabbiners. Aber dann schlafe ich eh. In einem religiösen Blättchen fand ich vergangene Woche ein Rezept gegen mein schlechtes Gewissen.
Schidduchim Eine Person ohne Namen gab eine Annonce auf: »Bete für Sie gegen Bezahlung. Periodisch oder einmalig. Für Schidduchim oder Refua.« Schidduchim sind Heiratsanträge, Refua ist medizinische Heilung. Ich brauche beides nicht, jedenfalls momentan nicht.
Aber ich rufe die Person in Israel mal an und frage, ob sie einfach nur so für mich beten könnte. 200 Schekel pro Woche finde ich ein faires Angebot. Oder haben Sie Interesse daran? 50 Euro pro Woche – Deal?