Es war kurz nach Pessach, an einem schönen Frühlingsabend, als ein leider allzu gut bekanntes Flugobjekt durch unser Küchenfenster flatterte. »Verschwinde, elende Motte!«, schrie ich den Falter an und breitete die Handflächen aus.
ESSIGREINIGER Mein Sohn sah mich traurig an: »Die Motte hat doch auch ein Recht auf Leben ...« »Nicht in meiner Küche!«, rief ich und merkte, wie sich Hass in mir ausbreitete. Schon im vergangenen Herbst hatte ich einen Feldzug gegen die Müslimotte, bekannt auch als Mehlmotte (Ephestia kuehniella), geführt, alle Schränke mit Essigreiniger ausgewischt, jeden winzigen Rest von Reis und Nudeln in Gläsern verstaut. Trotzdem sind die Motten zurückgekehrt.
Das war ein Fehler, den sie bereuen werden. Denn nichts brauche ich in Zeiten von Corona dringender als einen besiegbaren Gegner. »Merkt euch eins«, sagte ich zu meinem Mann und meinem Sohn, »die Müslimotte ist unser Feind! Gegen Corona gibt es noch keinen Impfstoff. Aber wenn ich hier noch einmal eine Motte sehe, garantiere ich für nichts.«
FALLEN In den Küchenschrank stellte ich zwei Fallen, am nächsten Morgen rief ich die Männer um acht Uhr zum Appell. »Wer ist unser Feind?«, fragte ich. »Die Müslimotte«, sagte mein Sohn folgsam. Ein Propagandaerfolg, den ich am Abend gerne wiederholen wollte. »Unser Feind ist … ?«, fragte ich zwölf Stunden später. Mein Sohn sah von seinem Lateinbuch auf und sagte: »Hannibal!«
Nur allzu gerne würde ich den Müslimotten ein Ende bereiten, das dem des karthagischen Feldherrn ähnelt. Doch Hannibal wurde nicht an einem Tag geschlagen, und auch ich muss mich mit kleinen Erfolgen begnügen, im Homeoffice in der Küche, wo mein Sohn ständig um mich herumschwirrt und auf meinen Bildschirm starrt. »Wenn du über mich schreibst, will ich alles vorher lesen«, verlangt er.
»Was ist dein Thema?«, wollte mein Mann wissen, als er nach Hause kam. »Die Müslimotte«, sagte ich. »Aha. Die Müslimotte und die jüdische Frage«, war seine Reaktion. Noch während ich über Hannibals Elefanten, die Juden und die Mottenfrage nachdachte, rief eine Freundin an und prophezeite, das Coronavirus sei der Anfang vom Ende der westlichen Zivilisation. »Sieh doch nicht so schwarz«, sagte ich.
WELTUNTERGANG Ich würde schon sehen, was ich davon hätte, wenn ich nicht an den Weltuntergang glaubte, sagte die Freundin. Eine zweite erzählte mir verzweifelt, dass sich ihre Söhne vor Frust über das Homeschooling im Kinderzimmer prügeln. Eine dritte Freundin hat einen Verschwörungstheoretiker als Chef, der Corona für eine Erfindung der italienischen Mafia hält.
Doch wozu Probleme wälzen, die ich nicht lösen kann – in Zeiten, wo nicht einmal die Putzfrau kommt? Mein neues Vorbild ist Beppo Straßenkehrer aus Momo: »Man muss nur an den nächsten Schritt denken, den nächsten Atemzug, den nächsten Besenstrich.« ... Ich habe mir eine weitere Flasche Essigreiniger und eine neue Spezialfalle gekauft. Mit Motten-Sekundenkleber. Wehe der Müslimotte, die sich jetzt noch in unsere Küche verirrt!