Glosse

Der Rest der Welt

Ich habe nichts gegen Solidarität mit Juden. Im Gegenteil, ich finde es toll, wenn sich engagierte Menschen für unsere kleine Minderheit einsetzen – obwohl wir manchmal alleine besser klarkommen würden und auch weniger Arbeit hätten. »Kommst du am Samstag zum Kippabasteln?«, fragte mich neulich ein Freund, der Grundschullehrer in Berlin ist. Im Zeichen der Toleranz will er religiöse Symbole praktisch vermitteln. Kreuz, Hidschab und Kippa!

Ich versuchte mich herauszureden, aber das Argument »Kippabasteln am Schabbat ist verboten« hätte nicht gezogen. Dazu kennt mich der Lehrer zu gut. Also sagte ich: »Ich kann nicht basteln. Außerdem habe ich keine Zeit.« »Schade, gerade für die jüdischen Schüler wäre Unterstützung so wichtig«, sagte der Lehrer. »Und was ist mit den jüdischen Eltern an der Schule?«, fragte ich. »Die wollen auch nicht«, gab der Pädagoge zu. Warum wohl?

Wochenende In einer anderen Berliner Schule, erzählte mir eine Mutter, hätten Lehrer ihre Schüler aufgefordert, aus Solidarität mit uns Juden jedes Wochenende in die Synagoge zu gehen. Und zwar jedes Mal in eine andere, damit die jungen Menschen alle Richtungen des Judentums kennenlernen, von liberal bis orthodox.

Auch von diesem Vorschlag halte ich wenig. Schließlich können wir den Schülern keine leeren Synagogen präsentieren. Das wäre peinlich. Also müssten auch wir jeden Schabbat zum Gottesdienst erscheinen, denn wie soll Solidarität mit Juden ohne Juden funktionieren? Aber so solidarisch bin ich nicht mal mit mir selbst. Ich will lieber ausschlafen.

Am Schabbat zum Gottesdienst erscheinen? So solidarisch bin ich nicht mal mit mir selbst. Ich will lieber ausschlafen.

Die Schüler, vermute ich, auch. Und erst recht der Kolumnist von Seite 17, der darüber schreibt, welche Juden daran denken könnten, schon mal zu schauen, wo die Koffer stehen. Der packt seinen Koffer doch nur, wenn er in den Urlaub fährt.

Mein nichtjüdischer Mann pflegt seine eigene Form der Solidarität, die auch sehr anstrengend ist. Während ich mich seit dem Anschlag von Halle dem Weltschmerz hingebe, mit Tränen in den Augen »Andre, die das Land so sehr nicht liebten/War’n von Anfang an gewillt zu geh’n« von Theodor Kramer in der Zupfgeigenhansel-Version höre und an meine Großeltern denke, die in den 30er-Jahren Deutschland verlassen mussten, verweist er darauf, dass trotz des schockierenden Mordes die Welt morgen noch nicht untergehe. Die AfD sei nicht die NSDAP.

schlafzimmer Kontere ich, dass die AfD in Programmen für ein Schächt- und Beschneidungsverbot eintritt, sagt mein Mann, es gebe doch Schlimmeres. An diesem Punkt war ich kurz davor, meine Ehe aufzukündigen. »Du kapierst es einfach nicht!«, schrie ich. »Ohne Religionsfreiheit kein Judentum! Du bist nicht auf meiner Seite!« Dann warf ich ihn aus dem Schlafzimmer.

Eine halbe Stunde später kam er zurück und grinste. »Ich bin 100 Prozent auf deiner Seite«, sagte er. »Und ich werde jederzeit für dein Recht eintreten, eine Ziege zu schächten. Hauptsache, du machst es nicht in unserer Wohnung. Okay?« Leider musste ich lachen. Wer will schon zu Hause Ziegen schächten, solange es woanders erlaubt ist? Dann schon lieber Kippabasteln. Oder?

Fernsehen

»Kommt ein Vogel geflogen«

Wenn ein Papagei das Leben einer deutschen Familie mit jüdischem Elternteil ins Chaos stürzt

von Cosima Lutz  26.11.2024

Soziale Medien

Was Experten zur antisemitischen Radikalisierung bei TikTok sagen

Bei einer Fachtagung werden Warnungen vor judenfeindlichen Inhalten der Plattform laut

von Nikolas Ender  26.11.2024

Jubiläum

100 Jahre alt und weiter topaktuell: Thomas Manns »Zauberberg«

Neben Hans Castorp ist der zum Katholizismus konvertierte Jude Leo Naphta eine der Hauptfiguren

von Karin Wollschläger  26.11.2024

Wissenschaft

Ist die Generation Selfie oberflächlich und selbstbezogen?

Dies ist nicht unbedingt der Fall, wie eine neue Studie aus Israel zeigt

 26.11.2024

Meinung

Nan Goldin: Gebrüll statt Kunst

Nach dem Eklat in der Neuen Nationalgalerie sollte Direktor Klaus Biesenbach zurücktreten

von Ayala Goldmann  25.11.2024

Hochschule

Das Jüdische Studienwerk ELES feiert sein 15. Jubiläum

Das Begabtenförderungswerk will junge jüdische Studenten für das Gespräch stärken – gerade in Zeiten von Krisen und Konflikten

von Stefan Meetschen  25.11.2024

Rezension

Trotzki-Biograf und Essayist

Isaac Deutschers Band »Der nichtjüdische Jude« zeigt Stärken und Schwächen des eigensinnigen Historikers

von Marko Martin  25.11.2024

Sehen!

Fluxus in Köln

Das Museum Ludwig widmet Ursula Burghardt und Ben Patterson eine Doppelausstellung

von Katharina Cichosch  24.11.2024

Amos Oz

Der Fehlbare

Biograf Robert Alter würdigt den Literaten und politischen Aktivisten

von Till Schmidt  24.11.2024