Ich war über Pessach erst ein Mal in einem Hotel. Und zwar an den beiden letzten Tagen des Festes. Das Hotel befand sich in den Schweizer Bergen, ich weiß aber nicht mehr, wo genau. Im Hotel gab es ein kleines Fitnessstudio und viele Rabbiner. Die hielten die ganze Zeit Vorträge. Auch während der Mahlzeiten. Da das Hotel sehr religiös geführt wurde, fehlten in den Hotelzimmern auch die Fernsehapparate.
Fitnessstudio Die einzige Ablenkung, die es gab, war das Fitnessstudio. Allerdings ist der Begriff »Studio« etwas irreführend. Es gab zwei Standfahrräder und ein paar Gewichte zum Stemmen.
An den beiden Tagen regnete es unaufhörlich. Mein Zimmer lag direkt über der Hotelküche. Wenn ich das Fenster einen Spalt öffnete, drang Fettgeruch ins Zimmer. Außerdem befand sich mein Zimmerchen direkt an der einzigen Dorfstraße, die auch vom Kraftverkehr in Anspruch genommen wurde.
Ich war damals 20 Jahre alt und etwas orientierungslos im Leben. Ich kam aus der Jeschiwa. Kein Schulabschluss, kein Mädchen, kein Job, kein Lebensplan. Ich beherrschte Deutsch … und Jiddisch. Das war’s.
Prospekt Der Aufenthalt in diesem Koscherhotel gab mir den Rest. Ich zählte die Stunden, bis Pessach endlich vorbei war. In der Hotellobby entdeckte ich einen alten Prospekt über das Feriendorf, dessen Name ich nicht mehr weiß. Ich weiß nur noch, dass ich den Prospekt etwa dreimal durchlas, so langweilig war mir.
Ich kam aus der Jeschiwa. Kein Schulabschluss, kein Mädchen, kein Job, kein Lebensplan.
Dann sah ich eine junge Frau. Etwa 18 Jahre alt. Tochter eines reichen Amerikaners, der mit seiner Familie eine Etage des Hotels in Beschlag nahm.
Spannend an der Familie war, dass alle dick waren. Der Vater, die Mutter, die Söhne, die Töchter. Es sah schlimm aus, wenn sie aßen und quatschten. Beides taten sie zur gleichen Zeit. Nur nicht die eine Tochter. Die war nämlich schlank wie ein Reh. Braune Augen, schwarze Haare, die Haut aus Elfenbein.
Schönheit Und: Sie schien sich ebenso sehr zu langweilen wie ich. Wir saßen beide in der Hotellobby. Im großen Saal nebenan redete schon wieder ein Rabbiner. Ich guckte die wunderbare Schönheit an. Die junge Frau, chassidisch, saß hinter einem Gummibaum.
Sie bemerkte meinen Blick und nestelte mit ihren Fingern am Tehilim-Buch. Dann strich sie ihren Rock gerade und eine Locke aus dem Gesicht. Es folgte ein Augenaufschlag und der eindringlichste Blick, den ich je erfahren habe.
Da ging die Türe auf, der langweilige Vortrag war anscheinend zu Ende. Der dicke Papa machte der Tochter ein Zeichen: Die nächste Mahlzeit steht schon an. Nu? Aber endlich hatte ich wieder ein Ziel vor Augen: Englisch lernen, aber richtig. Ein paar Jahre später heiratete ich dann auch – eine Deutsche.