Zürich ist eine kalte, unsympathische Stadt. Ich habe mich in den letzten 25 Jahren nie richtig anfreunden können mit den Bewohnern hier.
Die Leute gucken mich mürrisch an, schütteln den Kopf, wenn ich an der Kasse nicht gleich die Kundenkarte im Portemonnaie finde, und hupen hysterisch, wenn ich mit dem Fahrrad ein paar Millimeter in ihre Fahrbahn gerate.
Nur wenn die Ambulanz durch die Stadt rast, kann ich mich für Zürich erwärmen. Die Autofahrer fahren blitzschnell auf die Bürgersteige, die Fahrradkuriere halten an, und die Straßenbahn, in der ich sitze, stoppt ruckartig. Das ganze Leben hält für ein paar Sekunden an. Auch die Gespräche in der Straßenbahn verebben. Das Mitgefühl um einen unbekannten Verletzten berührt mich jedes Mal tief in meinem Herzchen.
REFUA SCHLEMA In dieser Stille hört man dann immer eine Mädchenstimme, die laut brüllt: »Refua schlema!« Das Mädchen sitzt links von mir und ist meine Tochter. Sie geht in den orthodoxen Kindergarten und verehrt ihre Kindergärtnerin. Im Unterricht hat sie gelernt, dass man »Refua schlema« – also »Gute Besserung« – sagt, wenn jemand krank ist.
Meine Tochter übernimmt alles, was ihr die Kindergärtnerin beibringt. Sie schreit »Refua schlema!« so laut, dass es sich wie »Hipp, hipp, hurra!« anhört. Sie wiederholt ihren Kampfspruch mehrmals. Und zwar so lange, bis die ersten mürrischen Gesichter sich umdrehen und sie böse angucken und dann mich.
DILEMMA Ich stecke dann immer in einem Dilemma: Einerseits wünsche ich den Verunglückten auch in den meisten Fällen »Refua schlema«, und ich will meine Tochter auch nicht jedes Mal bremsen. Andererseits kenne ich die Zürcher nur zu gut. Die denken sicher: Wir Juden brüllen tatsächlich »Hipp, hipp, hurra!«, wenn sich ein Nichtjude verletzt. Oder noch schlimmer: »Refua schlema!« wäre ein alttestamentarischer Spruch: »Fahr zur Hölle!«
Ich habe schon häufig versucht, meiner Tochter beizubringen, nach dem hebräischen »Refua schlema« die deutsche Übersetzung zu brüllen. Meinetwegen auch wiederholend. Ich mache das ja auch immer, wenn Nichtjuden uns an Schabbat besuchen: Zuerst bete ich auf Hebräisch und dann auf Deutsch.
Ich will nicht, dass unsere Gäste denken, ich würde beten: »Und Herr, vergifte unsere nichtjüdischen Gäste. Amen!« Aber meine Tochter verweigert sich dieser Anleitung zum interreligiösen Dialog. Seit Neuestem brüllt sie sogar: »Masal Tow!«, wenn in der Straßenbahn ein Smartphone auf den Boden fällt.