Ich habe einen neuen Job. Ich bin Lokalredaktor bei der »Luzerner Rundschau«. Nun fahre ich jeden Morgen von Zürich nach Luzern. Keine Fahrt gleicht der anderen. Mal stinkt es im ganzen Zug nach Toilette, mal streikt die Lüftung. Vielleicht kennen Sie ja Ähnliches von Ausflügen mit der Deutschen Bahn.
Manchmal befinde ich mich aus Versehen im Familienabteil, manchmal sitze ich auch vis-à-vis von zwei Studentinnen: Die beiden Damen, so kann ich heraushören, studieren Jura im dritten Semester. Sie quatschen ununterbrochen von Zürich bis Luzern. Beide sind Expertinnen im Multitasking: In ihren Ohrmuscheln stecken Kopfhörer. Sie hören Musik und plappern.
Die Studentin am Fenster war, so erzählt sie, kürzlich bei ihrer Frauenärztin. Es ging um ihre Periode. Sie habe immer »Mega-Schmerzen«, brüllt sie ihre Kommilitonin an. Die Frauenärztin musste ihr nach einer längeren Abklärung leider mitteilen, dass sie wahrscheinlich nie Kinder kriegen wird. »Wirklich?«, schreit die Studentin am Gang. »Fuck, ja!«, kreischt die andere. »Fuck, warum?«, »Fuck, meine Eierstöcke sind verklebt!«
Smartphone Ich gucke aus dem Fenster. Die Reise dauert noch 40 Minuten. So lange muss ich noch leiden. Ich bin der einzige im Abteil ohne Smartphone. Ich habe nur eine Zeitung als Ablenkung. Aber die hilft jetzt nicht.
Ich öffne eine Tüte M&Ms. Die wollte ich eigentlich erst auf der Rückfahrt vernaschen. Als Belohnung. Ich beschließe jetzt aber, bei jedem Fluchwort der beiden angehenden Juristinnen ein M&M zu essen. Ich muss schnell essen. Die Tüte ist schon nach der Hälfte der Fahrt leer. Geht es noch schlimmer? Mal schauen: Auf der Fahrt zurück sitze ich im Viererabteil. Auf den anderen drei Plätzen: Vater, Mutter, dicker Junge.
Im anderen Viererabteil sitzen: dickes Mädchen, dickes Mädchen, dicker Junge, dickes Mädchen. Es handelt sich um eine Großfamilie aus Israel. Sie schreien wild durcheinander. Bamba, Bissli, Schokolade. Alles wird gerecht aufgeteilt. Auch die Sitzbank und der Boden kriegen eine Portion.
Die Mutter hält die ganze Zeit das Smartphone fünf Zentimeter vor ihrer Brille. Der Vater verteilt Essen. Er guckt mich an. Ich habe keine Kopfbedeckung. Hoffentlich spricht er mich nicht an.
Ich schaue ihn kurz an. Er nimmt das als Bestätigung: »Ata miZürich?« – »Ja«, seufze ich, »ich komme aus Zürich. Wie muss ich helfen?«
Er klatscht in die Hände. Seine Frau legt sogar ihr Telefon zur Seite. Die Kinder starren mich an. Er bietet mir eine Tüte Bissli an (mit Pizza-Geschmack). Ich nicke. Endlich normale Leute.