Fühlen Sie sich auch manchmal ausgebrannt, völlig fertig und reif für einen Ort – egal wo, Hauptsache ganz weit weg? Dann habe ich genau das Richtige für Sie: Werden Sie jetzt Teil meiner Jüdische-Aussteiger-Gemeinde.
Es soll eine jüdisch-anarchistische Mischung aus Hippie-Kommune (ohne Batik-Dresscode, aber mit diesen »Naturheilkräutern«), Kibbuz (ohne Alles-Teilen, aber mit großer Orangen-Plantage) und Schweigekloster (ohne Christentum, aber mit dieser wunderbaren Ruhe) werden.
Tanach Sie dürfen eigentlich alles von Speck bis zu Ihrem Tanach mitbringen. Nur bitte beschränken Sie sich auf maximal zwei Meinungen (wegen der Ruhe) und sehen Sie davon ab, Zeitungen, Magazine oder internetfähige Geräte mitzubringen, damit wir uns nicht mit Horst Seehofer, Polizisten, die Kippa tragenden Juden hinterherlaufen, und Rappern, die Auschwitz besuchen, befassen müssen.
Ihnen kommt das Angebot zweifelhaft vor? Sie fragen sich, wieso eine 22-Jährige weder den sozialen Aufstieg anstrebt noch den sozialen Abstieg fürchtet und stattdessen den sozialen Ausstieg plant? Wenn Sie studiert haben oder mit dem komplexen Innenleben von Studierenden vertraut sind, kennen Sie die Antwort: Die schlimmsten Qualitäten eines Menschen kommen, anders als gemeinhin vermutet, nicht hungrig an Jom Kippur oder in hitzigen Diskussionen mit Antise ... äh, Antizionisten zum Vorschein, sondern – richtig: in der Klausurphase.
Eigentlich bin ich nicht besonders religiös, weshalb ich nie nachvollziehen konnte, warum manche meiner jüdischen Freunde sich über Klausuren am Samstag beschwerten. Ich fand: Wenn wir Studis Freitagabend fröhlich Bierpong spielen können, dann gehen auch Klausuren am so furchtbar heiligen Schabbes. Aber der Mensch hat ja bekanntlich mindestens zwei Meinungen. Eine, wenn es ihm gut geht, und eine, wenn es ihm schlecht geht. Als ich also vor einigen Wochen herausfand, dass ich samstags Klausur schreiben muss, dachte ich sofort ganz empört: Das geht nicht, der Chef verbietet es!
Ausrede Orthodox werden, um fürs Klausur-Verschieben eine gute Ausrede zu haben? Erschien mir logisch nach harten Lerntagen mit vielen Tassen Kaffee. Ich war mir sicher, Gott wäre, verglichen mit meiner Statistikprofessorin, der weniger strenge Prüfer. Sie verzeiht dir ja nicht mal die falsche Berechnung eines Standardfehlers – Gott dagegen verzeiht dir all deine Fehler.
Als ich dann, kurz davor, die Klausur zu verschieben, herausfand, dass Statistik jedes Semester auf einen Samstag fällt, wurde mein von zu viel Kaffee panisch schlagendes Herz ganz ruhig und entspannt. Ich legte die Lernsachen weg – die würde ich schließlich nicht mehr brauchen, denn ich würde samstags keine Klausur schreiben. Den perfekten Grund, mein Studium zu schmeißen, hatte ich also gefunden. Und schuld wäre die Universität oder Gott. Einer von beiden. Egal wer, die müssen wir beide nicht mit in unsere Aussteigergemeinde nehmen.