Am Freitag entdeckte ich auf unserer Straße zwei große Papiertüten. Sie waren gefüllt mit Briefmarken. Neben den Tüten stand: »Bitte bedienen Sie sich!« Ich nahm gleich beide Tüten und rannte nach Hause. Dann leerte ich den Inhalt auf den Tisch und staunte. Etwa 200 frankierte Briefe und knapp 500 lose Briefmarken. »Ich habe einen Schatz gefunden«, flüsterte ich andächtig. Ich ordnete die Briefmarken nach Jahrgang und entdeckte, dass ich es hier mit einer Sammlung zu tun hatte, die sämtliche Briefmarken der Schweiz von 1985 bis 1995 abdeckte. Wow. In einem Album steckte noch die Kaufquittung. Alles zusammen hat damals über 1.000 Franken gekostet! Ich bin reich!
Dann dachte ich aber an meine Kinder. Viel werden sie nicht von uns erben. Das Konto, das wir einmal für sie eingerichtet haben, ist längst wieder leer. Ich besitze ein paar Bücher, und meine Frau malt gerne Aquarell-Bilder. Das wird für ein Studium in Israel nicht reichen, da mache ich mir keine Illusionen.
Spinat Doch jetzt mit diesen vielen Briefmarken scheint alles wieder rosiger. Ich lief nochmals runter auf die Straße. Vielleicht lagen dort nun Papiersäcke, gefüllt mit Goldschmuck. Doch so lieb hatte mich der liebe Gott auch wieder nicht. Der Schabbes verlief sehr schön. Die Kinder, denen ich von dem Fund erzählte, waren den ganzen Tag über lieb. Sie wussten: Nur das bravere Kind wird die Briefmarken einmal erben. Sogar den Spinat haben sie gegessen. Ich staunte, wartete auf den Moment, in dem meine Frau in die Küche lief: »Wer möchte meine Portion Spinat essen? Denkt daran: Es geht um die Briefmarken!«
Am Montag ging ich dann in den Briefmarkenladen an der Zumsteinstraße. Im Laden türmten sich die Alben bis zur Decke hoch. Ein alter Mann saß auf einem Stuhl und musterte mich kritisch. »Mein Name ist Frenkel, und ich habe hier ein paar Briefmarken. Was haben die für einen Wert?« Der alte Mann beugte sich über meine Wertanlage und guckte sich meine Briefmarken an.
Ich schaute mich im Laden um. An den Wänden hingen ein paar eingerahmte Briefmarken: 1.700 Franken, 2.000 Franken, 3.400 Franken. Mir wurde schwindlig. Eine einzige Briefmarke kostete 3.400 Franken! Vielleicht kann ich auch nochmal studieren gehen. Nach ein paar Minuten war der Alte fertig: »Was Sie mir da vorbeigebracht haben, hat keinen Wert. Ich gebe Ihnen zehn Franken für alles.«
Was? Zehn Franken? Es stellte sich heraus, dass meine Briefmarken nichts Besonderes sind. Vor 20 Jahren hat fast jeder Schweizer Vater solche Briefmarken gekauft, um sie später seinen Kindern zu vererben. Das soll mir nicht passieren. Ich tauschte sie gegen zehn Franken um und kaufte mir damit einen Kaffee bei Starbucks! Ich habe auch nichts von meinen Eltern bekommen.