Manche Bilder aus der Kindheit sind bei mir tief drinnen gespeichert. Vor allem religiöse Motive. Wenn ich an Pessach denke, kommen mir automatisch die Bilder aus meiner Kinder-Haggada in den Sinn. Ich sehe, wie ein Ägypter auf einen riesigen Frosch schlägt. Den scheint das überhaupt nicht zu schmerzen. Im Gegenteil: Er spuckt jede Menge quicklebendiger Frösche aus dem Mund.
Und beim Stichwort Rosch Haschana sehe ich sofort Gott mit Rauschebart vor mir. In seiner Hand hält er eine Waage. Auf der linken Schale liegen die guten Taten, rechts die bösen. Die Waage ist genau im Gleichgewicht. Ich höre meinen alten Religionslehrer: »Aufgepasst, Beni! Wenn du jetzt nur eine gute Tat vollbringst, wirst du ins gute Buch geschrieben. Wenn du aber sündigst, steht dein Name im schlechten Buch.«
mussaf-gebet Natürlich entwickle ich mich weiter. Ich bin immerhin schon 40 Jahre alt. Heute kommen mir auch andere Bilder in den Sinn. Zum Beispiel das endlos lange Mussaf-Gebet. Es ist das längste im ganzen Jahr. Etwa 20 Seiten lang. Man muss die ganze Zeit stehen. Früher machte mir das wenig aus. Heute juckt es mich bereits auf Seite vier, und das linke Bein fühlt sich auf Seite acht tot an.
Aber auch schöne Bilder steigen auf. Der festlich gedeckte Tisch mit der Honigschale und den geviertelten Äpfeln darauf. Früher waren wir am Abend immer eingeladen. Bei Familie Rosenstein. Herr und Frau Rosenstein hatten aber nicht nur Honig und Apfel auf dem Tisch. Auch Möhren, Bananen, Datteln, Feigen, Granatäpfel – und dann noch diesen Fisch.
Der guckte mich immer so traurig an. Herr Rosenstein stach mit der Gabel in dessen Kopf und schnitt mit dem Messer kleine Stücke ab. Dann schloss der ältere Mann die Augen und sprach: »Mögen wir vom Kopf sein, und nicht vom Schwanz.« Herr Rosenstein aß dann auch die Fischaugen mit.
schwanz Letztes Jahr ist er gestorben, der Herr Rosenstein. Das ist einerseits schade, andererseits aber auch befreiend für mich. Denn ich hasse Fischkopf. Ich möchte sowieso lieber beim Schwanz sein. Aber das habe ich mich nie getraut zu sagen.
Am Sonntag habe ich Frau Rosenstein besucht. Wir haben ihr einen wirklich schönen Strauß Blumen gepflückt. Dazu gab’s eine Schachtel Diabetes-Schokolade. Frau Rosenstein kämpfte mit den Tränen. Ich denke, das war eine gute Tat. Beim Abschied hat sie mir noch etwas in die Hand gedrückt. Zu Hause habe ich die Alufolie geöffnet: ein Fischkopf! Sch ..., habe ich geflucht. Oh nein, eine böse Tat. Wenigstens wieder Gleichgewicht auf der Waage.