Kennen Sie das Märchen von der Stadtmaus und der Landmaus? Die Stadtmaus lebt in einer Villa am Stadtrand mit jeder Menge Personal und ernährt sich von handgeschöpftem Bio-Camembert aus der Normandie. Die Landmaus haust in einer miesen zugigen Dreizimmerwohnung, kämpft täglich mit der leckenden Heizung und Schimmelflecken an den Wänden, und wenn sie den Hausmeister anruft, kommt nur ein höhnisches Lachen aus dem Telefonhörer.
Kein Wunder, dass die arme Landmaus einen Minderwertigkeitskomplex hat, wenn sie von versnobten Stadtmäusen umgeben ist, die auf ihr herumhacken. Besonders mies fühlt sie sich an langen Wochenenden, wenn sich die Stadtmäuse in ihre Zweitvillen in Knokke-Heist zurückziehen, während die Landmaus im Antwerpener Mief zurückbleibt.
Inzwischen ist wohl klar geworden, dass es sich bei der frustrierten Landmaus um meine Wenigkeit handelt, während der Rest der Antwerpener Bevölkerung aus elitären Stadtmäusen besteht. Es ist ganz schön hart, das kann ich Ihnen sagen. Aber man hat ja auch seinen Stolz.
Gören Wenn meine Kinder ihre Freunde – diese kleinen arroganten Gören – mit nach Hause bringen und ich mir hinterher wieder einmal anhören darf, dass sie bedauert werden, weil sie in so einer miesen zugigen Hütte aufwachsen müssen, dann schlage ich zurück und erkläre ihnen, die Eltern der arroganten Gören seien allesamt Steuerhinterzieher und Kleinkriminelle. So viel Kohle könne niemand auf legale Art und Weise verdienen. Jawoll!
Damit fühlen wir uns alle ein bisschen besser. Bis jetzt zumindest. Denn am folgenden Wochenende ist meine Tochter zum ersten Mal in die Strandvilla von »Neureich & Co.« eingeladen: von Freitag bis Montag umgeben von Luxus. Das kann nicht gesund sein! Vier Tage reichen, um auch die bescheidenste Landmaus in eine arrogante Stadtmaus zu verwandeln. Was mache ich, wenn meine Tochter einfach ins andere Lager überwechselt und mich nur noch mit Verachtung straft?
Whatsapp Natürlich sind wir das ganze Wochenende über in Kontakt, sodass ich per WhatsApp sämtliche Fotos der Menüs, Golf-Caddies, Garten-Pavillons, Whirlpools und privaten Tennisplätze bewundern kann, während ich zitternd neben dem Telefon sitze und mir ausmale, wie meine Tochter ihre Gastgeber als Kleinkriminelle und Schwarzgeld-Millionäre bezeichnet. Aber alles geht glatt. Und als ich meine Tochter am Montagabend wieder in Empfang nehme, scheint sie ein paar Zentimeter gewachsen zu sein.
Zart gebräunt mit seidigen Haaren und glänzenden Augen sieht sie aus wie ein Model aus dem GAP-Kinderkatalog. Zitternd erwarte ich das Urteil über ihre Rückkehr in unsere substandardmäßige Kleinstwohnung.
Aber sie umarmt mich überschwänglich, checkt wie immer als Erstes den Kühlschrank, schnappt sich eine Cola, wirft sich auf unser speckiges altes Sofa, seufzt zufrieden und erklärt, sie habe uns alle sehr vermisst. Ob wir am nächsten Wochenende vielleicht zelten könnten? So eine Strandvilla sei viel zu etepetete. Erleichtert werfe ich mich neben sie aufs Sofa, nehme einen Schluck Cola und schalte den Fernseher an. Unsere Lieblingsserie läuft: The Bold and the Beautiful.