Es ist mal wieder so weit. Pomerantz von Gegenüber hat sein Widderhorn aufpoliert und feilt an der diesjährigen Schofar-Performance: tröööt tröööt. Auch Plutschnik von nebenan versucht sich daran, und die Kinder bringen wie jedes Jahr diese nervigen, kleinen, extra lauten Neon-Plastik-Schofare von der Schule mit. In meiner Wohnung herrscht wahrlich eine Stimmung wie am jüngsten Tag. Ich werde noch wahnsinnig!
Alain, mein Göttergatte, merkt von alledem nichts. Er sitzt auf dem Sofa – die Fernbedienung verkrampft in der linken, seine Gesangspartitur in der rechten Hand – und zieht sich immer wieder das Video der Slichot 5776 rein. Dieses Jahr hat er endlich sein ersehntes Solo beim Synagogenchor. Das Ganze wird dann wie jedes Jahr im belgischen TV übertragen. Darum heißt es üben, üben, üben ... oy oy oyyyy … zurückspulen ... wiederholen ... oyyyy oyyyy. Am liebsten würde ich den Fernseher aus dem Fenster werfen, aber ich will seiner TV-Karriere nicht im Weg stehen. Also leide ich stumm vor mich hin.
schnorrer Zum Tröten und Jodeln kommt auch noch das nervenzerrüttende Türklingeln hinzu. Denn vor den Chagim haben die Schnorrer Hochsaison. Und wenn es kein Schnorrer ist, ist es ein verwirrter Madrich der Bnei Akiva mit einem Riesen-Einkaufswagen voller Blumengestecke, die er aus Zeitmangel bei mir zurücklässt, damit ich sie sämtlichen Nachbarn vorbeibringe. In meiner Wohnung herrscht inzwischen eine Art Endzeitstimmung: Rauchschwaden trüben die Sicht, weil ich dauernd zur Tür muss und dabei die Zimmes auf dem Herd vergesse. Durchdringendes Tuten sowie herumliegende Fischköpfe und -gerippe vervollständigen das Szenario.
Als es zum 22. Mal klingelt, steht der Nachbar von oben vor der Tür – Chabad-Rabbiner, sieben Kinder. Er sammle Unterschriften für seine Sukka. Da er nur einen winzigen Balkon hat, will er einen Architekten beauftragen, der mittels einer Eisenkonstruktion ebenjenen vergrößern und so der Familie eine Sukka in luftiger Höhe bescheren soll. Bei dem Gedanken, dass bald sieben Kinder vor meinem Fenster frei schwebend an einem wackligen Gestell herumturnen, wird mir schlecht. Aber der Rabbi beteuert, alles wäre völlig legal und sicher. Ich unterschreibe also brav wie alle anderen.
So kommt es, dass ein Trupp Bauarbeiter ins Haus einfällt und schon bald ein Bild der Verwüstung aus Dreck und Schutt im Treppenhaus hinterlässt. Als schließlich der Gips aus unserer Wohnzimmerdecke zu rieseln beginnt – bei den Bauarbeiten ist wohl irgendetwas schiefgelaufen – und wir durch die immer größer werdenden Löcher nachts den Sternenhimmel bewundern können, kommt der Rabbi von oben zu Besuch, streicht sich erfreut über den Bart und verkündet, unser Wohnzimmer könne rein halachisch als Sukka gelten, wenn wir noch ein oder zwei Wände einreißen würden. Ich werde darüber nachdenken.