Pessach ist das Fest der Freiheit, Weihnachten das Fest der Liebe. So weit die Legenden. In Wahrheit brechen die schlimmsten Familienkräche unter dem Tannenbaum aus, während Pessach Knechtschaft für alle Beteiligten bedeutet. Wer den Seder ausrichtet, hat wochenlangen Vorab-Stress: Ist das Haus sauber genug? Was kaufe ich ein? Werden die Mazzeknödel aus der Tüte Gnade in den Augen von Tante Assia finden, die immer alles selbst macht?
Wer nicht zum Seder eingeladen ist, schiebt Frust. Um sich als Teil des jüdischen Kollektivs zu fühlen, melden sich die Einsamen unter den Juden beim Gemeindeseder an, wo ebenfalls gefrustete Rabbiner oder Kantoren im Einsatz sind, die lieber mit ihren Familien feiern würden.
All-inclusive-Seder Die beste Lösung, um sich aus der Affäre zu ziehen, ist die Ankündigung: »Wir fahren zu Pessach nach Israel!« In Wirklichkeit bedeutet das entweder einen All-inclusive-Seder mit Massenabfertigung in einem Hotel, in dem es acht Tage lang keine Brötchen gibt, oder eine Selbsteinladung bei den israelischen Verwandten, die schon genug Gäste haben, aber pflichtbewusst auf die Bitte reagieren, die Familie aus der Diaspora an einem authentischen Sederabend teilhaben zu lassen. Wie meine Cousine aus Ramat Gan sagte: »Schade, dass wir Pessach nicht nach Israel fahren können!«
Da haben wir es natürlich besser, denn wir fahren Pessach nach Israel. Nur meine Eltern konnte ich nicht überzeugen, mitzukommen, obwohl meine Cousine in ihrer Großherzigkeit gerne den ganzen deutschen Zweig der Familie eingeladen hätte. Aber mein Vater, ein Ex-Kibbuznik vom alten Schlag, blieb hart: »Kommt überhaupt nicht infrage. Ich wohne nicht in einem koscheren Hotel und esse acht Tage Mazze.«
Toastbrot Dass mein nichtjüdischer Mann keine Lust auf Pessach in Israel hat, brauche ich kaum zu betonen, denn auch er ist kein Fan des ungesäuerten Brotes. Dabei wird für sein leibliches Wohl definitiv gesorgt sein, denn meine tolerante Cousine hat mir jetzt schon die Öffnungszeiten von Tiv Taam in Ramat Gan verraten. Und falls wir dort nur Toastbrot oder eingefrorene Pitot finden, können wir zu Abulafia nach Jaffa fahren.
Diese Aussichten trösten den bekennenden Pessachmuffel aber nicht darüber hinweg, dass ich einen Up-Flug gebucht habe, der am Tag von Erew Pessach um drei Uhr morgens in Ben Gurion landet. Ich gebe zu, das war nicht meine beste Idee. Umbuchen ist jetzt leider zu teuer.
Warum ich das alles überhaupt mache? Für meinen Sohn natürlich, damit die Botschaft von Pessach an die nächste Generation weitergegeben wird! Denn wenn wir – erschöpft von den Besuchen bei zahlreichen Verwandten, den Staus auf israelischen Straßen und den überfüllten Parks – wieder in Berlin landen, kann ich meinem Kind mit gutem Gewissen den Rest des Jahres das Lied vorsingen: »Avadim Hajinu ... Sklaven sind wir gewesen, und jetzt sind wir freie Menschen!«