Finale

Der Rest der Welt

Meine Eltern besuchten mich zwischen den Jahren in Berlin. Jedes Mal, wirklich jedes Mal, wenn sich meine Mutter und mein Vater ankündigen, werde ich leicht nervös. Denn nicht alles schmeckt, nicht alles belustigt, und nicht alles passt. Berlin ist nun mal wie Lakritz – Hass oder Liebe. Es gibt nichts dazwischen. So geht es auch meiner Mutter – man hat genau eine Chance, sie zu begeistern. Oder zu vergraulen. Einen Tochter-Bonus gibt es nicht.

So plante ich bereits vier Wochen vor ihrer Anreise minutiös alle fünf Tage ihres Besuchs, reservierte Tische in sämtlichen Restaurants und analysierte die Dezember-Spielpläne des gesamten kulturellen Angebots. Ich wusste: Mit Hamlet komme ich nicht weit, genauso wenig wie mit Dantons Tod oder dem Weihnachtsoratorium von Bach – alles ein alter Hut.

icke Mein Vater ist anders, er freut sich bereits wie ein Schneekönig, wenn jemand »icke« und »Schrippe« sagt. Er liebt Berlin. Nicht zu vergessen: die Lakritz-Regel.

Ich entschied mich für Erotic Crisis im Maxim Gorki Theater. Denn was sonst, wenn nicht ein zeitgenössisches Stück über puren, unverblümten Sex, serviert man seinen Eltern zwischen Weihnachten und Neujahr? Hatte ich erwähnt, dass es aus der Feder einer israelischen Regisseurin stammt?

Mit schwitzigen Händen betraten wir das imposante Theater. Um mich herum das alte Preußen, hinter mir meine kuschelnden Eltern und in meinem Kopf lediglich: »Ich hoffe, sie lacht. Ich hoffe, sie lacht. Ich hoffe, sie lacht.« Und sie lachte. Wir lachten. Auch dann, wenn sonst niemand lachte. Dank der israelischen Schauspielerin, die ihre Rolle einer frustrierten Mutter und Partnerin derart selbstironisch spielte, dass man meinte, Kishon höchstpersönlich hätte Hand ans Skript gelegt.

Mit wackelndem, mit Cellulite überzogenem Hintern stampfte sie mal wütend, mal aufbrausend vor Liebe über die Bühne – eine natürliche Leichtigkeit, die wohl charakteristisch für jüdischen Humor ist. Ihr, meinen Eltern und mir schien nichts peinlich. Selbst dann nicht, als sie ihre sexuellen Fantasien auf Hebräisch ins Publikum schrie – meine Mutter und ich schienen die Einzigen im Saal zu sein, die sie verstanden. Was definitiv gut war, denn erotische Hamas-Fantasien wären definitiv zu viel für das deutsche Humoristenherz gewesen.

lachs Nach fünf harmonischen Tagen in Berlin, die ganz sicher auf meine exzellente Planung zurückzuführen sind, verabschiedeten sich meine Eltern mit der Wiederauffüllung meines sonst leeren Kühlschranks. Nun sitze ich auf Salzgurken, Lachs und Roastbeef, Mohnkuchen, Datteln und zehn Kilo Waschpulver, das mein halbes Badezimmer einnimmt.

Auf die Frage hin, ob mein Hintern die Ausmaße jener der Schauspielerin hatte, antwortete meine Mutter am Bahnsteig: »Nicht ganz so groß, Mamile!«. Nun ja – jüdisch ist, wer trotzdem lacht.

Literatur

Die Heimatsuchende

Vor 50 Jahren starb Mascha Kaléko. Ihre Dichtung bleibt erschreckend aktuell

von Nicole Dreyfus  15.01.2025

TV-Tipp

Furchtlose Kunstliebhaber in der NS-Zeit

Während des Nationalsozialismus sollten »entartete« Kunstwerke beseitigt werden, aber einige Mutige setzten zur Rettung der Werke ihr Leben aufs Spiel. Eine 3sat-Dokumentation zeichnet einige Fälle nach

von Wolfgang Wittenburg  15.01.2025

Konzerte

Yasmin Levy in München und Zürich

Die israelisch-türkische Künstlerin aus einer sephardischen Familie singt auf Ladino, bzw. Judäo-Spanisch, einer fast vergessenen Sprache

von Imanuel Marcus  15.01.2025

Malerei

First Ladys der Abstraktion

Das Museum Reinhard Ernst in Wiesbaden zeigt farbenfrohe Bilder jüdischer Künstlerinnen

von Dorothee Baer-Bogenschütz  14.01.2025

Leipzig

»War is over« im Capa-Haus

Das Capa-Haus war nach jahrzehntelangem Verfall durch eine bürgerschaftliche Initiative wiederentdeckt und saniert worden

 14.01.2025

Debatte

»Zur freien Rede gehört auch, die Argumente zu hören, die man für falsch hält«

In einem Meinungsstück in der »Welt« machte Elon Musk Wahlwerbung für die AfD. Jetzt meldet sich der Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner zu Wort

von Anna Ringle  13.01.2025

Krefeld

Gütliche Einigung über Campendonk-Gemälde

An der Einigung waren den Angaben nach die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth (Grüne), das Land NRW und die Kulturstiftung der Länder beteiligt

 13.01.2025

TV

Handgefertigte Erinnerung: Arte widmet Stolpersteinen eine Doku

Mehr als 100.000 Stolpersteine erinnern in 30 Ländern Europas an das Schicksal verfolgter Menschen im Zweiten Weltkrieg. Mit Entstehung und Zukunft des Kunstprojektes sowie dessen Hürden befasst sich ein Dokumentarfilm

von Wolfgang Wittenburg  13.01.2025

Mascha Kaléko

Großstadtdichterin mit sprühendem Witz

In den 20er-Jahren war Mascha Kaléko ein Star in Berlin. Die Nazis trieben sie ins Exil. Rund um ihren 50. Todestag erleben die Werke der jüdischen Dichterin eine Renaissance

von Christoph Arens  13.01.2025