In der S-Bahn, Richtung Alexanderplatz. Ich sehe mich um und schaue in die Gesichter meiner Mitreisenden. Sie blicken heute, an diesem außergewöhnlich grauen Dezembertag, außergewöhnlich missmutig drein. Ich weiß, wovon ich rede, mir sind die »50 Shades of Berliner Laune« bestens bekannt. Aber ich vergönne es ihnen nicht, mir geht es genauso. Am Ende eines Jahres liegen uns 365 Tage in den Knochen, die man so kurz vor Schluss einfach ad acta legen möchte.
Die einzigen Menschen, die sich lautstark in unserem ruckelnden Waggon unterhalten, sind ein israelisches Ehepaar, beide weit über 60. Als wir gerade das Kanzleramt passieren, sagt Tzipi, den Namen werde ich in den nächsten 20 Minuten etwa 30-mal hören, zu ihrem Mann: »Jakob, schau mal, der Reichstag.« Jakob weiß es. Ich weiß es. Alle in der Bahn würden es wissen, wenn sie die beiden verstünden: Es ist nicht der Reichstag, es ist das Kanzleramt. Doch Tzipi lässt sich von dieser Tatsache nicht beeindrucken. Wahrscheinlich auch deshalb nicht, weil sie Jakob aus Prinzip widersprechen möchte. Das Entertainment-Rezept vieler jüdischer Ehen.
Vollpfosten So werden meine Gedanken während der Fahrt von Tzipis und Jakobs Disput über Angela Merkels Büro von einem Hochhebräisch untermalt, das in Israel leider immer mehr von »Ghetto-Iwrit« und Vollpfosten-Vokabular verdrängt wird – ich könnte mir gerade nichts Schöneres vorstellen als eine Diskussion. Ein Stichwort, das mich daran erinnert, wie intensiv das bald endende Jahr war.
Ich meine, als Nichtjude muss sich Rekapitulieren wohl so anfühlen: Habe ich abgenommen? Gibt es Weltfrieden? Ist Obama immer noch Präsident? Ich, gedanklich irgendwo zwischen Berlin und Beltz, frage mich jedoch: Worüber würden wir reden, wenn es keinen Antisemitismus mehr gäbe? Wie steht es um die Zwei-Staaten-Lösung? Wann wird Barbra Streisand endlich entthront? Zündet man Chanukkakerzen 2016 auch von links oder rechts an? Müssen Salzgurken nach Salz oder Essig schmecken? Jüdische Renaissance – ein Mythos oder Wirklichkeit?
Mauer Tzipi und Jakob schauen derweil aus dem Fenster und blicken mit offenen Mündern den betongrauen Fernsehturm hoch. Ob er vor oder hinter der Mauer stand, möchte Jakob von Tzipi wissen. Sie sagt: davor. Jakob schaut sie ungläubig an. Er weiß es, ich weiß es, alle in der Bahn würden es wissen, wenn sie die beiden verstünden. Doch Tzipi beharrt auf ihrer Version.
Vielleicht eine Attitüde, die ich mir von ihr abschauen sollte. Einfach auf meiner Sicht der Dinge bestehen und, auf meinem Kaugummi schmatzend, in die kommenden Berliner Tage leben. Neujahr ist in weniger als zwei Wochen. Es gibt sicherlich Leute, die das Geknalle als »Gojim Naches« bezeichnen, also als Nichtjuden-Kram, der so gar nichts mit dem jüdischen Kalender zu tun hat. Ich sehe das anders, auch wenn mir diese eine Sekunde zwischen den Jahren nie wirklich etwas bedeutete. Es wird sich bestimmt jemand finden, der mit mir darüber diskutiert. Aber nicht heute. Vielleicht nächstes Jahr.