Kennen auch Sie diese Tage, an denen Ihnen nichts auf der Welt überflüssiger erscheint, als Jude zu sein? Es begann damit, dass ich vor dem Eingang zum jüdischen Kindergarten beinahe plattgemacht worden wäre von einem BMW-Fahrer, der offenbar etwas gegen Verkehrsteilnehmer mit weniger PS hatte. Auf der Arbeit outeten sich dann alle meine Kollegen als Fans von Günter Grass und kritisierten Israel für seine Siedlungspolitik. Am Nachmittag saß ich alleine mit meinem Sohn auf dem Spielplatz; die anderen jüdischen Kinder wohnen in fernen Stadtteilen, und die Terminpläne ihrer viel beschäftigten Mütter sind selten unter einen Hut zu bekommen.
grabenkämpfe Missgelaunt half ich meinem Dreijährigen, Sand in seinen Eimer zu schippen, und fragte mich: Was bringt es, Jüdin zu sein? Ich bin Mitglied einer Gemeinde, in der sich alle erbittert hassen, als hieße der Feind nicht Amalek oder Ahmadinedschad sondern Sissberg oder Dr. Schejn. Die Grabenkämpfe fordern so viel Kraft, dass niemand mehr Zeit hat, den Turnus der Gottesdienste auf der Gemeinde-Website einzupflegen. Eigentlich wollte ich spontan an einem »Leil Tikkun Schawuot«, einer nächtlichen Tora-Lesung, teilnehmen, doch nur ein einziger Veranstaltungshinweis war online zu finden. Also buk ich alleine in meiner Küche den New York Cheesecake von Dr. Oetker und stellte mir geistreiche, freundliche Juden vor, mit denen ich gerne über die Tora diskutiert hätte. Aber wo in Berlin verstecken sich solche Juden? Ich fürchte, die Antwort weiß nur Gott alleine.
Aus Frust stopfte ich an Pfingsten den ganzen Käsekuchen in mich hinein und dachte über die Zukunft nach. Nie wird der Nahostkonflikt gelöst werden, und meinem Sohn wird man die Schuld daran geben. Günter Grass wird als Philosemit in die Geschichte eingehen, gemessen an den Gedichten, die seine Enkel verfassen werden. Die Website der Gemeinde wird auch in 50 Jahren nicht funktionieren, weil die Enkel von Sissberg und Dr. Schejn den Krieg auf Gemeindekosten weiterführen. Vielleicht einfach aussteigen, dachte ich mir? Etwas Besseres als das Judentum kann man überall finden!
kindermund Da kam mein kleiner Sohn angerannt und erzählte mir von der Schawuot-Feier in der Kita. Ich fragte: »Kennst du schon die Zehn Gebote?« Der Dreijährige sagte ernst: »Es gibt nur einen Gott. Man soll Mama und Papa lieb haben.« Und schon wurde ich weich wie Butter. Das ist natürlich auch so eine Masche von den Juden – kaum will man sich rar machen, drücken sie auf die Tränendrüse. Aber vorerst hat mein Sohn die Mitgliederzahl meiner Gemeinde stabilisiert. Nach den Hohen Feiertagen, falls wieder keine Gottesdienste auf der Website stehen, kann ich schließlich immer noch austreten.