Morgens um vier standen meine Freundin Anna und ich, noch benommen von einer kurzen Nacht, in meinem Wohnzimmer und starrten wortlos auf unser Gepäck. Ihr Koffer: elegant, schwarz, praktischer Tragegurt, geschlossen.
Meiner: übersät mit unschönen gelben Aufklebern der israelischen Sicherheitskontrolle, leicht ramponiert von permanentem Übergepäck und noch geöffnet (leider). In 20 Minuten sollte das Taxi vor meiner Tür stehen, weitere zwei Stunden später bestiegen wir eine Turkish-Airlines-Maschine, die uns nach San Francisco brachte – drei Wochen US-Westküstenabenteuer lagen noch vor uns.
Gepäckneurose Reisefieber wäre das Einzige gewesen, das mich an jenem frühen Morgen hätte plagen sollen. Doch in diesen Minuten lag im Hinterhof eines Charlottenburger Altbaus viel mehr das Gefühl von Exodus und Ellis Island in meiner Magengrube – aus Urlaubsvorfreude wurde meine Gepäckneurose, die mich immer wieder daran erinnerte, dass »Kofferpacken« nicht nur meine semitische Lieblingsmetapher, sondern ein tatsächlicher Akt ist.
»Brauchst du das denn alles?«, fragte mich Anna mit einem verständnislosen Unterton. Ob ich das alles brauchte? Es geht doch nicht ums Brauchen, sondern ums Haben. Wenn ich alles dabei habe, komme ich gar nicht erst in die Verlegenheit, irgendetwas zu vermissen. »Das kommt davon, wenn man permanent von ausgepackten Koffern spricht. Man kann sie nie wieder wirklich packen«, warf sie in den Raum, kicherte leise und vergrub sich, als ich ihr meine blitzenden Augen zeigte, hinter ihrem Buch.
Freundschaft Sie wusste, dass unsere Konversation mit diesem Einwand in einer Kette zynischer Bemerkungen enden würde – und sie sollte recht behalten. »Stimmt, als Jüdin sollte ich wesentlich nonchalanter mit meinem Koffer umgehen können«, entgegnete ich trocken. Zum Glück synchronisierte sich das humoristische Empfinden über die Dauer unserer Freundschaft.
Ich schaute mich in meinem Wohnzimmer um und spürte in diesem Moment das Verlangen, viele weitere Gegenstände in den bereits viel zu vollen und viel zu schweren Koffer zu packen. Doch brauchte ich in San Francisco wirklich eine Menora, Bilder meiner Eltern in schweren Silberrahmen und mein Lieblingssofakissen, dessen Bezug ein alter Keim aus einer Jerusalemer Seitenstraße ist? Nein, eigentlich nicht, doch wenngleich ich vor nichts anderem fliehen muss als vor meiner alltäglichen Verantwortung, bedeutet Packen für meine Synapsen puren emotionalen Stress.
Während ich mich auf meinen Koffer setze und es doch noch schaffe, ein Familienfoto reinzuschmuggeln, erzählt Anna ganz nebenbei, dass sie mal mit drei T-Shirts und zwei Paar Hosen eine Reise durch Vietnam bestritt. Einfach meschugge, diese Frau.