Neulich, ich saß mal wieder mit tiefen Augenringen hinter meinem Computer, fragte mich eine theologisch interessierte nichtjüdische Kollegin unvermittelt: »Sag mal, was verstehst Du eigentlich unter Spiritualität?« Ich hatte keine Ahnung, was ich ihr antworten sollte – außer, dass Spiritualität das absolute Gegenteil von dem sein muss, was ich in meinem Alltagsleben praktiziere. »Nicht nachdenken und nicht arbeiten«, sagte ich, »Sinn finden in dem, was man tut. Gemeinsam mit anderen an einem höheren Ziel mitwirken – nicht nur mit dem Verstand. Sich eins fühlen mit der Welt und den Mitmenschen.«
hamsterrad Die Kollegin fand meine Antwort schön. Ich auch. Am Abend zuvor hatte mir der beste Ehemann von allen einen Riesenkrach angedroht, falls ich nicht endlich aufhörte, alle Aufträge der Welt anzunehmen und wie ein Hamster im Rad zu rotieren. Ich rechnete meine Wochenstunden im vergangenen Monat aus und kam im Schnitt auf 50. »Ist Dir eigentlich klar, dass wir ein Kind haben und ich eine Vollzeitstelle?«, schimpfte mein Göttergatte wütend. »Wie soll das alles weitergehen?«
Ich weiß es auch nicht. Vielleicht sollte ich drei Monate nicht arbeiten und stattdessen nach Spiritualität suchen. Aber wo? Interessanterweise steht bei Wikipedia kein Wort über jüdische Spiritualität. Alle anderen Religionen kommen vor: Christen (persönliche Beziehung zu Jesus), Muslime (eine geistige Brücke zwischen Menschen und Welt einerseits und Gott andererseits bauen), Buddhisten (Erleuchtung). Nur wir Juden nicht. Ich kann das nachvollziehen. Wenn es irgendwo keine Spiritualität gibt, dann in meiner Gemeinde in Berlin: Wer dort jemals Repräsentantenversammlungen besucht hat, weiß definitiv, wo jüdischer Geist nicht weht.
tscholent Aber: Wo die Gemeinden versagen, sind immer gleich die Lubawitscher zur Stelle. Ich googelte herum und entdeckte auf der Website www.chabad.de, dass ich mit meinem Problem nicht alleine bin. »Rabbi, (...) ich habe absolut keine Zeit für Spiritualität in meinem Leben. Meine Woche ist voll gepackt mit Arbeit, familiären Verpflichtungen«, schreibt dort ein Ratsuchender. »Ich wüsste nicht, wo noch spirituelle Aktivitäten hineinpassen würden.«
Als Antwort fordert besagter Rabbi den gestressten Mann auf, in einen Tscholent-Topf zu blicken: »Sie sollten nie glauben, dass Sie zu beschäftigt sind, um es sich nicht leisten zu können, sich auf Ihre Seele zu konzentrieren. Die Wahrheit ist, Sie können es sich nicht leisten, Ihre Seele zu vernachlässigen. Möge Gott Sie und Ihre Lieben segnen, damit Sie immer ein warmer Tscholent-Topf bleiben.«
Wie weise der Rabbi ist! Ich allerdings habe keine Geduld fürs Tscholent-Kochen. Zum Abendbrot habe ich uns stattdessen drei Döner vom Türken geholt, die wir in fünf Minuten aufgegessen haben. Ich fürchte, das wird nie was bei mir mit der Spiritualität.