Finale

Der Rest der Welt

Ich gebe zu, es gibt bessere Zeitzeuginnen als mich: Ich habe den Mauerfall am 9. November 1989 in Berlin komplett verschlafen – und alle Zeichen, die auf ein großes politisches Ereignis hindeuteten, ignoriert. Kann ich zu meiner Verteidigung anführen, dass ich noch sehr jung war – gerade einmal 20? Oder war ich schon damals viel zu viel mit jüdischen Angelegenheiten beschäftigt und hatte einfach nur Scheuklappen?

Wie auch immer, zum Herbstsemester 1989/90 war ich aus dem Schwabenland nach Berlin gezogen, fühlte mich glücklich in der großen Stadt, in der so viele interessante Juden lebten, und genoss das Studentenleben am Judaistik-Institut der Freien Universität.

Theater Am Abend des 9. November ging ich mit ein paar Kommilitoninnen ins Hebbel-Theater in Kreuzberg: Ein Stück zur »Kristallnacht«, wie sie damals noch genannt werden durfte (an den Begriff »Pogromnacht« habe ich mich nie gewöhnen können). Als ich in die U 1 stieg, war sie rappelvoll. Und die Fahrgäste wirkten irgendwie aufgekratzt: Sie redeten über Trabbis und Grenzübergänge. Ich war noch in Gedanken bei dem Theaterstück, fuhr nach Hause in meine Einzimmerwohnung in Charlottenburg und legte mich ins Bett.

Um vier Uhr nachts klingelte das Telefon. Am anderen Ende war D., eine Studentin aus Ost-Berlin. Ich kannte sie durch schwäbische Freunde, die wiederum Hausbesetzer in Prenzlauer Berg kannten.

OSt-Berlin Für uns war es ein Abenteuer, am Wochenende nach Ost-Berlin zu fahren und oppositionelle Ossis zu besuchen, die »taz« zusammengefaltet im Schuh. Natürlich gab es auch Ost-West-Liebschaften, an denen ich aber leider nicht beteiligt war. Einmal hatte ich D. Bananen mitgebracht, was sie albern fand. Jetzt war sie kurz vor Morgengrauen in der Leitung und behauptete: »Wir sind im Westen!«

»Toller Witz«, raunzte ich sie verschlafen an. »Kein Witz!«, schrie D. in den Hörer. »Echt? Dann erzähl mal, in welchem Bezirk ihr seid«. »Ich glaube, Steglitz«, sagte D. »Die Mauer ist auf!« Allmählich dämmerte mir, dass sie mich nicht auf den Arm nahm. »Okay. Wir treffen uns bei J. zum Frühstück.«

brötchen
J. war ein Schwabe aus meiner Heimatstadt, der damals in Steglitz in einer WG wohnte. Morgens holte er Brötchen für alle. D. und die anderen Ossis waren total aufgekratzt, fast ein bisschen schockiert wegen der schreienden Menschenmassen auf dem Ku’damm, zogen dann aber erst mal los, um ihr Begrüßungsgeld abzuholen. Ich war mit einem Kommilitonen zum Büffeln verabredet und nötigte ihn kurzerhand, mit mir zum Brandenburger Tor zu fahren: »An einem solchen Tag willst du doch nicht Arabisch lernen!«

Dann weiter zum Rathaus Schöneberg. Er musste mich auf die Schulter nehmen, und ich jubelte Willy Brandt zu: »Willy, Willy!« Am Abend hatte ich den ersten Migräneanfall meines Lebens. Was ich damit sagen will? Nichts Grundsätzliches. Ist mir nur alles wieder eingefallen. 25 Jahre danach.

Sachbuch

Auf dem Vulkan

In »Niemals Frieden?« rechnet der Historiker Moshe Zimmermann mit der israelischen Politik ab – und äußert tiefe Sorge um das Land

von Ralf Balke  18.11.2024

Meinung

Maria und Jesus waren keine Palästinenser. Sie waren Juden

Gegen den Netflix-Spielfilm »Mary« läuft eine neue Boykottkampagne auf Hochtouren. Der Grund: Die Hauptdarstellerin ist israelische Jüdin

von Jacques Abramowicz  18.11.2024

Fachtagung

»Kulturelle Intifada«

Seit dem 7. Oktober ist es für jüdische und israelische Kulturschaffende sehr schwierig geworden. Damit beschäftigte sich jetzt eine Tagung in Frankfurt - auf der auch Rufe nach einer differenzierten Debatte laut wurden

von Leticia Witte  18.11.2024

Kultur

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 18. November bis zum 21. November

 18.11.2024

Runder Geburtstag

Superheldin seit Kindesbeinen

Scarlett Johansson wird 40

von Barbara Munker  18.11.2024

Netflix

Zufall trifft Realität

Das Politdrama »Diplomatische Beziehungen« geht in die zweite Runde – Regisseurin Debora Cahn ist Spezialistin für mitreißende Serienstoffe

von Patrick Heidmann  17.11.2024

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 17.11.2024

Literatur

Schreiben als Zuflucht

Der israelische Krimi-Bestsellerautor Dror Mishani legt mit »Fenster ohne Aussicht« ein Tagebuch aus dem Krieg vor

von Alexander Kluy  17.11.2024

Madoschs Mensch

Wie eine Katze zwei Freundinnen zusammenbrachte – in einem Apartment des jüdischen Altersheims

von Maria Ossowski  17.11.2024