Mein größter Stressfaktor im Moment heißt Zahni. Zahni, der Milchzahn. Vorne links im Milchgebiss meines fünfjährigen Sohnes Sammy ansässig, stresst Zahni rund um die Uhr. Er wackelt, blutet, nervt beim Essen und macht Terror beim Zähneputzen.
Sammy lebt seit Tagen in Angst und Schrecken. Was ist, wenn Zahni nachts rausfällt und Sammy ihn verschluckt? Was, wenn Sammy im Kindergarten ist, plötzlich niesen muss, Zahni herausgeschleudert wird, quer über den Spielplatz fliegt und schließlich im Gesicht der kleinen Yaeli, Sammys Quasi-Verlobter, landet? Wie peinlich! Der kleine Sammy ist ein sehr empfindsames Kind. Die Affäre Zahni wächst ihm bald über den Kopf – und mir auch. Sammy schläft nicht mehr und isst nicht mehr.
Prinz Zahn Umsonst erzähle ich ihm Geschichten von der Zahnfee, die kommt und großzügig Feuerwehrautos und Lego-Ritterburgen an kleine Zahnpatienten verteilt. Vergebens erzähle ich ihm Geschichten vom tapferen kleinen Prinzen Zahn, der auszieht, um Abenteuer zu erleben. Ein Glück, dass wir bald zu meinen Eltern fahren. Die werden uns hoffentlich wieder aufpäppeln, denn Sammy und ich haben bereits tiefe Augenringe von dem ganzen Stress und eine ungesunde grünliche Gesichtsfarbe.
Am Tag der Abfahrt flattert dann zu allem Überfluss noch ein giftgrüner Brief ins Haus – vom Finanzamt. Panisch überfliege ich das in bissigem Tonfall verfasste Schreiben: Steuerschuldschaft, Zwischenerzeugnissteuer, Strafzahlung – das hat mir gerade noch gefehlt. Wir erreichen das Haus meiner Eltern als völlige Nervenwracks. Omi kümmert sich gleich mal um Zahni und macht Kamillenwickel, Opi gibt mir die Nummer von einem gewievten Steuerberater.
Mr. Steuer Verzweifelt rufe ich den sofort an. Besetzt. Stundenlang ist bei dem Typen besetzt. Und dann geht nur der Anrufbeantworter an. Ich hinterlasse mehrere Nachrichten. Nervös tigere ich auf der Terrasse auf und ab. Dann endlich: Das Telefon klingelt. Der Steuerfuzzi ist dran. Er fährt morgen in den Urlaub und hat noch genau 45 Minuten, um mein Problem zu lösen. Fieberhaft krame ich nach meinen Steuerunterlagen. Er versucht mir telefonisch zu erklären, wie ich mich vor dem Fiskus retten kann: Ich verstehe nur Bahnhof. Mr. Steuer wird langsam ungeduldig. Da schießt ein kreischendes, leicht blutendes Etwas zu mir auf die Terrasse und umkreist mich mit Sirenen-Heulton: Es ist Sammy, und sein Zahn ist ihm gerade ausgefallen. Ich schlucke.
Der Steuerfuzzi muss in fünf Minuten auflegen. Sammy will sofort meine Aufmerksamkeit. Ich schließe die Augen und sehe vor mir, wie sich eine Schar Geldscheine flügelschlagend gen Nirgendwo verabschiedet. Flapp, Flapp, Flapp. Da kommt im rechten Moment mein Vater auf die Terrasse. Wie immer hat er die Situation voll unter Kontrolle, ergreift den Hörer, lässt sich alles in zwei Minuten erklären.
Meine Mutter stürmt mit einer Tube Zahngel, einem CD-Spieler und Pixie-Büchern auf die Terrasse. Sammy fällt ihr aufseufzend in die Arme. Für mich gibt’s dann ja wohl nichts mehr zu tun hier. Ich sinke in den nächsten Liegestuhl. Mein Urlaub hat begonnen.